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Liberalismus: Die Offenheit schottet sich ab

Bei der Suche nach Erklärungen
für die gegenwärtige Polarisierung und Radikalisierung von Politik ist es
verlockend, sich auf die Wählergruppen zu konzentrieren, die sich von den
Volksparteien abgewendet haben und stattdessen nun populistische Positionen
unterstützen. So wird seit einigen Jahren beispielsweise viel über die Nöte und
Ängste der einfachen Angestellten, Arbeiter und kleinen Beamten geschrieben,
die, bevor sie sich radikalisierten, treue Wähler der politischen Linken gewesen
waren. Die Teile des Elektorats, die diesen Kursschwenk nicht mitgemacht haben
und heute entweder für die modernisierten Überbleibsel der ehemaligen Volksparteien
oder für deren Nachfolger, wie etwa Emmanuel Macrons République en Marche,
stimmen, ziehen hingegen deutlich weniger
Interesse auf sich. Das ist insofern kurios, als es sich dabei mehrheitlich um gut
ausgebildete, international versierte, wirtschaftlich chancenreiche, ökologisch
bewusste, oftmals junge, multikulturell eingestellte, urban lebende
“liberale Eliten” handelt.

Diese in der politikwissenschaftlichen Forschung
als “soziokulturell Berufstätige” (“socio-cultural
professionals”) bezeichnete Gruppe besitzt die Ausbildung, die
(Perspektive auf die) finanziellen Mittel sowie das soziale Kapital, um
politische Prozesse deutlich stärker in ihrem Sinne zu beeinflussen, als das den
Wählergruppen möglich ist, die zu den Populisten abgewandert sind. Ihr
Erscheinen, ihr Erstarken und ihr Einflussgewinn seit den Babyboomern der
1960er Jahre spiegelt die Radikalität des ökonomisch-kulturellen Wandels
unserer Zeit mindestens genauso sehr wider wie das Auftreten seiner Verlierer
und Opponenten in den populistischen Bewegungen. Umso wichtiger erscheint daher
ein Fokus auf gerade diesen Teil des Wahlvolks – und auf den mit seinem
Erstarken verbundenen politischen Wandel.

Nostalgievorwurf und liberale Ideologisierung

Wenn die neuen Eliten
wirklich ausschlaggebende Wähler sind, woher kommt es dann, dass wir ihnen eine
eher reaktive Rolle für den aktuellen Prozess der Polarisierung zuzuschreiben
scheinen? Ist es nicht widersprüchlich anzunehmen, dass ausgerechnet die neuen
Bildungsoberschichten höchstens durch unbeabsichtigte Fehler, quasi indirekt,
zum Erstarken der Populisten beigetragen haben? Wäre es nicht viel eher
denkbar, dass diese Gruppe, wie in anderen Fragen auch, ihre Ressourcen und
Fähigkeiten aktiv genutzt haben könnte, um die Politik in ihrem Sinne zu gestalten,
in diesem Falle also: um sie zu polarisieren?

Dass diese Frage selten gestellt wird, ist sicher
auch ein Resultat der (Selbst)Beschreibung der nichtpopulistischen Seite als
politische “Mitte”. Sowohl die Reste der traditionellen Volksparteien
als auch ihre Nachfolger stehen eher für Kontinuität. Daher die Annahme, bei ihren
Wählern handle es sich um die Gemäßigten, die Pragmatiker in der Mitte zwischen
zwei radikalen Gruppen, den Populisten am linken und am rechten Rand des
politischen Spektrums.

Eine gewisse Radikalität der Gemäßigten tritt
freilich im Vorwurf der “Nostalgie” an die Populisten und ihre Wähler
zutage. Denn mit Nostalgie reagiert ja,
wer einen schlechterdings unaufhaltsamen Wandel nicht wahrhaben will.
Die Pragmatiker machen sich also einen durchaus tiefgreifenden Wandel zu eigen
– oder beschreiben zumindest ihre Akzeptanz dieses Wandels als einen zentralen
Unterschied zu den Populisten. Dabei ist die “Nachfrage” nach populistischen
Positionen zunächst eine ganz und gar nicht gestrige Realität auf dem aktuellen politischen
“Markt”. Unabhängig davon, ob man entsprechende Forderungen inhaltlich
als rückwärtsgewandt einschätzt, müssten sie also aus einer genuin liberal-demokratischen
Perspektive zunächst einmal als Ausdruck von Präferenzen im Hier und Jetzt
aufgefasst werden. Anstelle des vielproklamierten “Endes der liberalen
Demokratie” spiegelt der Aufstieg neuer Kräfte daher zunächst nur das
Funktionieren demokratischer Repräsentationsprozesse wider.

Den Populisten wird ihre Wehmut für eine unwiederbringliche
Zeit vorgeworfen, wobei mit dieser Wehmut gleichzeitig das Verschwinden eigener
pragmatischer Mehrheiten erklärt werden soll. Was wäre das, wenn nicht
Nostalgie der sich selbst in der politischen Mitte verortenden “Pragmatiker”
für eine gemäßigte Politik, die, nach der Logik des unaufhaltsamen Wandels, heute
als genauso unwiederbringlich verschwunden betrachtet werden müsste wie die
traditionelle Gesellschaft, die die Populisten vermissen.

Vor allem aber deutet dieser Umstand auf eine
zunehmende Ideologisierung des liberalen Projekts hin. Neue politische Mitbewerber
werden als eine so nicht vorgesehene Abweichung von einer implizit
vorausgesetzten Norm der Politik aufgefasst. Zudem wird ihnen jedwede
inhaltliche Dimension abgesprochen – auch wenn ein solcher Diskurs der
liberal-demokratischen Grundlogik zuwiderläuft. Die
Errichtung von geschlossenen Weltbildern basiert auf der Ausblendung
oppositioneller Positionen. Und so unterläuft gerade dem modernen pragmatischen
Projekt, das sich als postideologisch und faktenbasiert versteht, die eigene
Ideologisierung: Die liberale Idee der Offenheit wird zum geschlossenen
Weltbild ausgebaut – bis hin zum Ausschluss jeglicher Position, die als nicht
offen genug identifiziert wird.

Vergemeinschaftung statt Vergesellschaftung

Es greift aus diesem Grund
auch zu kurz, den sozialdemokratischen Parteien den Ausverkauf wahrhaft linker
Politik vorzuwerfen oder den Christdemokraten die Rückkehr zu einem
konservativen Profil anzuraten. Die Polarisierung von Politik entlang der
Linien der liberalen Ideologisierung ist vielmehr der Ausweis von etwas genuin
Neuem, nicht einfach nur das Ende von – wahlweise – traditionellen
Wertvorstellungen oder der Politik der Mitte oder der “liberalen
Weltordnung”. Vielmehr verweist das Entstehen neuer, ideologisch
geschlossener Weltbilder unter den soziokulturell Beschäftigten auf dramatisch
veränderte Lebens- und Arbeitswirklichkeiten, auf einen tiefgreifenden Wandel
kultureller Werte und wirtschaftlicher Produktionsweisen sowie auf geradezu
revolutionäre Entwicklungen im Bereich der Technologie. Das ist auch der Grund,
warum dieser (im Übrigen größer werdende) Teil des Elektorats mindestens das
gleiche Maß an Aufmerksamkeit verdienen sollte wie die Populisten.

Liberalismus: Dieser Artikel stammt aus der April-Ausgabe des "Merkur".

Dieser Artikel stammt aus der April-Ausgabe des “Merkur”.
© Klett-Cotta

Schauen wir also auf die Substanz der Ideologie
dieser neuen Eliten. Die Maßgabe der Befreiung von allem, was potentiell die
Offenheit von Politik minimieren könnte, führt zu einer Neujustierung ihrer
Reichweite. Mithilfe der Typologie Max Webers in Wirtschaft und Gesellschaft könnte man sagen, dass sich politisches
Handeln von der weiter gefassten “Vergesellschaftung” zur enger gefassten
“Vergemeinschaftung” zurückzuentwickeln scheint, also von einer
Aktivität zum Zwecke des (umfassenden) Interessenausgleichs zu einem Handeln
auf der (selektiveren) Grundlage von Zusammengehörigkeitsgefühlen. Die Konfrontation zwischen multiplen Bildungs-
und Wertegemeinschaften ersetzt zunehmend gesamtgesellschaftliche
Aushandlungsprozesse von etwa Einkommens- und Verteilungsfragen.

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