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Arbeitslosigkeit: Die Fee von Fulda

Larissa Mihm teilt ihre Kunden in zwei Gruppen auf, in Normalfälle und
Intensivfälle. Um die Normalfälle kümmert sie sich je eine Stunde in der Woche, um die
Intensivfälle bis zu fünf Stunden. Das klingt, als sei Larissa Mihm eine Ärztin, die Patienten
versorgt. Es klingt nach leicht Erkälteten und Schwerverletzten, die ihre Hilfe brauchen.
Dabei ist Larissa Mihm studierte Sozialpädagogin, eine Angestellte im Jobcenter Fulda. Sie
widmet sich Menschen, die sich schwertun mit dem, was andere für selbstverständlich halten:
arbeiten gehen.

Larissa Mihm bringt Menschen das Arbeiten bei

Larissa Mihm ist 31 Jahre alt, sie nennt sich Coach. Das könnte man mit Trainerin übersetzen. Ein Coach ist zwar kein Therapeut, aber mehr als bloß ein Arbeitsvermittler in irgendeinem Büro hinter irgendeinem Schreibtisch. Larissa Mihm steht Langzeitarbeitslosen, die endlich eine Stelle gefunden haben, draußen im Joballtag zur Seite, damit sie nicht wieder aufgeben. Sie trainiert das Durchhaltevermögen. Es kann eine anstrengende Arbeit sein, Menschen das Arbeiten beizubringen. Man braucht viel Zuversicht und Geduld. “Es dürfen sich keine Probleme anstauen”, sagt Larissa Mihm.

An einem Morgen im Februar läuft sie in die Tiefgarage des Jobcenters Fulda und schließt ihren Dienstwagen auf, einen silbergrauen Kombi. Im Auto durchquert sie die hessische Stadt. Die Gegend ist nicht gesegnet, wie es Bayern oder Baden-Württemberg mit ihren Konzernzentralen sind, auch nicht beladen wie das Ruhrgebiet mit seinen Industriebrachen. Fulda, etwa 70.000 Einwohner, keine Großstadt, keine Kleinstadt, geografisch in der Mitte Deutschlands gelegen, ist eigentlich ein Durchschnittsort, an dem es allerdings überdurchschnittlich gut läuft: Hier gibt es Arbeit unterschiedlichster Art, und zwar für jeden, vom Akademiker bis zum Ungelernten. Fulda hat eine eigene Hochschule, Niederlassungen von Technologie-Konzernen, eine Papierfabrik, allerlei Mittelständler. Dazu jede Menge einfacher Jobs in der Logistik-Branche, in Warenlagern und bei Spediteuren, von denen es in Fulda viele gibt, denn von hier aus ist jeder Winkel des Landes gut zu erreichen.

Deutschland hat einen langen Boom hinter sich, die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr, die bundesweite Quote liegt bei 5,1 Prozent. In Fulda kommt der Istzustand dem Idealzustand besonders nahe: 2,8 Prozent ohne Job – nahezu Vollbeschäftigung. Gerade einmal 3500 Menschen sind im gesamten Landkreis noch arbeitslos gemeldet. Gleichzeitig gibt es 2600 offene Stellen.

Wollten Wirtschaftswissenschaftler ein Labor aufbauen, um darin zu erforschen, wer sich auf dem Arbeitsmarkt selbst in guten Zeiten schwertut – ihr Labor sähe aus wie Fulda. Hier lässt sich erkunden: Wer sind die Übriggebliebenen, die jetzt noch immer keine Stelle haben? Können sie nicht arbeiten, oder wollen sie nicht? Und wie soll der Staat mit ihnen umgehen?

In einem Dorf bei Fulda parkt Larissa Mihm ihr Auto und läuft zu einem Firmengebäude. Hier arbeitet Ronald Schlüter als Hausmeister. Im Jobcenter gilt er als Intensivfall. Ronald Schlüter heißt in Wahrheit anders, er will nicht erkennbar sein. In der Firma nennen ihn alle beim Spitznamen, hier soll er Ronni heißen. Auch die anderen Menschen, die für Larissa Mihm “Kunden” sind, haben in diesem Artikel einen veränderten Namen. Manche von ihnen schämen sich für ihre Defizite.

Ronald Schlüter konnte bis vor Kurzem nichts mit einem Computer anfangen, und er wechselte selten die Kleidung, viel zu selten. Er stank. Larissa Mihm hatte die Sache mit dem unangenehmen Körpergeruch schon in einer Computerdatei entdeckt, bevor sie ihren neuen Kunden wirklich kennenlernte, in der “Dokumentation Schlüter” beim Jobcenter Fulda. Den Fall hatte sie von ihrer Vorgängerin übernommen, kein einfacher Fall.

Das Jobcenter ist sowas wie eine Notrufzentrale

Schlüter ist um die 50, er war Koch, er war Kellner, er war Türsteher, stets fühlte er sich schon von einfachen Aufgaben überfordert. Am Ende war er fünf Jahre lang arbeitslos. Dann fand das Jobcenter für ihn die Stelle als Hausmeister. Er verdient jetzt rund 1700 Euro brutto im Monat, und der Staat zahlt einen großen Teil davon. Das Jobcenter ist für ihn so etwas wie eine Notrufzentrale. Der mobile Hilfsdienst besteht für ihn aus Larissa Mihm.

Schlüter hätte sie an diesem Morgen auch im Jobcenter besuchen können, aber er will die Welt der Bittsteller hinter sich lassen. Er hat darauf bestanden, dass Larissa Mihm zu ihm ins Dorf herausgefahren kommt, und sie ist auf seinen Wunsch eingegangen. Auch bei ihr ist der Kunde, in gewisser Weise, König. Wenn er sich nicht wohlfühlt, gibt er auf. Das darf nicht passieren.

Ein deutsches Jobwunder – aber nicht für alle

Ein deutsches Jobwunder – aber nicht für alle

Quellen: Bundesagentur für Arbeit, IAB © ZEIT-Grafik

In ihrer Handtasche hat Larissa Mihm ein paar Papiere verstaut, die Schlüter am Ende des Besuchs unterzeichnen muss – viel wichtiger aber ist ihr Lächeln. Larissa Mihm ist in der Lage, ein ausdrucksloses Gesicht anzulächeln, die Zweifel eines Menschen wegzulächeln, Hoffnung herbeizulächeln. Ihr Lächeln hat viele Funktionen, es kann auch einer Drohung gleichen. Wer versucht, der Arbeit zu entfliehen, wird mit dem Entzug des Lächelns bestraft. So wird das Lächeln zum Symbol eines Sozialstaates, der auch die Übriggebliebenen nicht sich selbst überlässt. Wo es reichlich Jobs gibt, da soll niemand mehr auf die Idee kommen, sich zu entwinden.

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