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Vereinsamung: Gegen die Einsamkeit

Zum Arzt müsse sie heute Nachmittag. Eigentlich ein Routinebesuch, sagt
die Anruferin, aber man wisse ja nie, in ihrem Alter. Vorher will sie noch einkaufen gehen,
einen neuen Duschvorhang braucht sie. Und dann sei da noch die Enkelin in München; die komme
bald in die Schule, dabei sei sie doch noch so zart.

Elke Schilling nickt, fragt nach (“Wie oft sehen Sie Ihre Enkelin denn?”) und sagt mitfühlend: “Das kenne ich” – ganz so, als säße sie der Frau gegenüber. Tatsächlich sitzt Schilling mit einem Headset vor einem Telefon und spricht mit der älteren Dame am anderen Ende der Leitung. Diese wohnt in Berlin, das sieht Schilling auf einem Bildschirm, und das Gespräch dauert bislang 21 Minuten. Es ist das dritte an diesem Morgen.

Silbernetz heißt die Gesprächshotline, Elke Schilling hat sie gegründet. Den Anstoß gab ein Vorfall in der Nachbarschaft: Über Wochen hatten sich vor einer Wohnungstür die Flyer der Lieferdienste gesammelt. Als die Polizei nach mehreren vergeblichen Anrufen schließlich die Wohnung aufbrach, kamen den Beamten die Fliegen entgegen. “Der Mann war seit zweieinhalb Monaten tot”, sagt Schilling. “Niemand hatte es bemerkt.”

Sozial isolierte Menschen haben ein um 42 Prozent erhöhtes Risiko für einen Herzinfarkt

Seit September nehmen die 74-Jährige und ihre Mitarbeiter in einer Ladenwohnung in Berlin-Mitte Gespräche von Menschen entgegen, die jemanden zum Zuhören brauchen – weil sie sonst niemanden haben, weil sie etwas loswerden wollen, weil sie sich langweilen. Einen konkreten Grund wie bei der Telefonseelsorge müssen die Anrufer nicht nennen. Es reicht, sich einsam zu fühlen. Beim ersten Anrufer an diesem Tag, der besonders viel erzählte, fragte Schilling, wann er denn das letzte Mal mit einem Menschen gesprochen habe. “Als ich im Krankenhaus lag”, sagte der Mann. Das war drei Wochen her. “Einfach mal reden” lautet der Slogan von Schillings Berliner Initiative.

Das Bedürfnis danach ist groß. Zwischen zehn und fünfzehn Prozent der Deutschen – so eine Untersuchung der Psychologin Maike Luhmann von der Universität Bochum – leiden zeitweise unter Einsamkeit. Bei den über 85-Jährigen sind es 20 Prozent. Soziologische Daten legen nahe, dass die soziale Isolation zugenommen hat: Mehr Deutsche als je zuvor (42 Prozent) wohnen in einem Singlehaushalt; ein Fünftel der Frauen und Männer ist kinderlos, ein Drittel der Ehen endet mit einer Scheidung; die Zahl der Hochbetagten steigt von Jahr zu Jahr – und damit das Risiko, ohne Geschwister oder Freunde zurückzubleiben.

In Großstädten hat sich der Anteil der Amtsbestattungen, bei denen niemand mehr am Grab steht, seit 2000 auf sechs Prozent verdoppelt. Das ermittelte eine Studie der Uni Kassel. In den USA, wo die gesellschaftlichen Trends ähnlich verlaufen, prophezeite das
Wall Street Journal
kürzlich: Die Babyboomer, die erste individualistische Generation, werden einsamer altern als jede Kohorte vor ihnen.

Einsamkeit ist schmerzhaft, es gibt nicht viele Gefühle, die so wehtun (siehe Interview). Bislang galt das unfreiwillige Alleinsein als etwas Privates, das man für sich behält und sogar versteckt. Der eine oder andere Anrufer beim Berliner Silbernetz rief von einem öffentlichen Telefon an, um Rückschlüsse auf seine Privatnummer nicht preiszugeben.

Nun aber rückt das schmerzhafte Gefühl ins öffentliche Interesse. Eine Welle medizinischer Studien erkundet die gesundheitlichen Folgen der Einsamkeit. Vivek Murthy, der oberste Gesundheitsverantwortliche unter Präsident Obama, nannte die Einsamkeit eine Epidemie mit ähnlichen Folgen wie starkes Übergewicht oder das Rauchen von 15 Zigaretten am Tag.

Einsamkeit – Campaign to End Loneliness
Sieben Tage ohne soziale Kontakte: Was gerade für ältere Menschen Alltag ist, erlebt ein junger Brite in diesem Video der Campaigntoendloneliness.org im Selbsttest.

© Foto: Campaigntoendloneliness.org

Die Politik reagiert: In England wurde im vergangenen Jahr eine Einsamkeitsministerin ernannt. Länder wie Dänemark oder Australien finanzieren öffentliche Kampagnen gegen die Einsamkeit. Und die große Koalition in Berlin verspricht im Koalitionsvertrag, der “Einsamkeit in allen Altersgruppen vorzubeugen” und “die Vereinsamung zu bekämpfen”. Doch was kann die neue Einsamkeitspolitik bewirken? Antworten liefert eine Spurensuche, die von London ins nordenglische Blackpool führt, und von Berlin ins schleswig-holsteinische Norderstedt.

Am 15. Oktober vergangenen Jahres steht eine Politikerin am Rednerpult des britischen Unterhauses und ringt um Fassung: Einsamkeitsministerin Tracey Crouch stellt ihr Programm vor. Auf 80 Seiten hat sie aufgelistet, was die englische Regierung in den nächsten Jahren zu tun gedenkt, um “die chronische Einsamkeit innerhalb einer Generation zu beenden”. So lautet das ehrgeizige Ziel.

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