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Jürgen Trittin: Protest braucht ein Gesicht

DIE ZEIT: Herr Trittin, am Wochenende wurde die
Klimaschutz-Aktivistin Greta Thunberg
mit dem Sonderpreis Klimaschutz der
Goldenen Kamera geehrt. Es gab stehende Ovationen, das Establishment verneigt
sich vor dem Protest. Hätten Sie sich vorstellen können, dass es einmal so weit
kommt?

Jürgen Trittin: Da versuchte ein Medienkonzern auf die
Popularität aufzuspringen. Interessant ist, warum er meinte, das machen müssen.
Das ist eben anders als um 68. Ich kann mich noch gut an meine erste Demo in
Bremen gegen Fahrpreiserhöhungen erinnern. Da hatte der sozialdemokratische
Polizeipräsident von Bock und Pollack eine Parole ausgegeben, die hieß:
draufhauen, nachsetzen. Das wäre heute undenkbar, die Gesellschaft ist offener
und partizipativer. Greta Thunberg wird vom französischen Staatspräsidenten
eingeladen, sie spricht vor Wirtschaftsbossen in Davos. Das ist ein
fundamentaler Wandel. Aber eben nicht für alle. CDU-Politiker und sogar die die
SPD-Umweltministerin tun so, als ob der Bildungsstandort Deutschland den Bach
runtergeht, weil Schüler freitags erlerntes Wissen mit der Wirklichkeit abgleichen.
Das zeigt, dass der Streik doch funktioniert. Er stößt an.

ZEIT: Warum laufen die Proteste von heute so viel weniger
konfrontativ ab als früher? Die Wasserschlacht von Brokdorf, die Kämpfe um die
Startbahn West, das wirkt ja alles wie aus einer anderen Zeit.

Trittin: Einerseits gibt es in weniger Holger Börners, die
Demonstranten am liebsten mit der Dachlatte verprügeln würden. Das Land hat
gelernt, mit dem Protest umzugehen. Auf der anderen Seite hat sich auch der
Protest verändert.

ZEIT: Inwiefern?

Trittin: Die Demonstranten sind in gewisser Hinsicht offener und
neugieriger. Neulich hatte ich eine Veranstaltung mit Luisa Neubauer von
Fridays for Future und dem IG-BCE-Chef Michael Vassiliadis. Und die beiden
konnten miteinander reden. Das hätte es zu unserer Zeit nicht gegeben, dass
Klima-Aktivisten und strukturkonservative Gewerkschafter miteinander einen
Dialog führen. Zudem sind die Aktivisten von heute viel mediengewandter, sie
sind bewusster, was ihre eigene Wirkung angeht. Uns war es ja egal, mit welchen
Klamotten wir rumliefen. Außerdem reagieren die Protestierenden heute auf die
gewachsene Flexibilität des Systems mit einer strategischen Flexibilität der
Bewegung. Sie sind fundamental in ihrem Anliegen, aber pragmatisch in seiner
Umsetzung. Das ist auch ein Lerneffekt. 

ZEIT: Aber aus den handfesten, auch physischen Konflikten schöpft
eine Bewegung doch auch Kraft und Energie. 

Trittin: Wir sind mit der Konfrontation aufgewachsen, die
Auseinandersetzung hat uns geprägt. Aber wir haben eben auch die Grenzen des
Politikmodells der Gegenmobilisierung erkannt. 1977 hatten wir 100.000 Leute
nach Brokdorf gebracht. Das war ein riesiger Erfolg. Und trotzdem hat sich
nichts geändert, außer dass wir von Grenzschützern, die aus Hubschraubern
abgesprungen sind, verkloppt worden sind. Hätten wir uns etwa auch Hubschrauber
zulegen sollen? Die Auseinandersetzung konnten wir nicht gewinnen. Dass wir uns
entschieden haben, in die Parlamente zu gehen, war auch eine Reaktion darauf.
Und damit haben wir uns selbst, aber auch dieses System verändert.

ZEIT: Und trotzdem gehen heute wieder junge Leute auf die Straße,
die genau das einklagen, was Sie schon in den Siebzigerjahren gefordert haben.

Trittin: Klar, auf der einen Seite sagt der VW-Chef heute Dinge über
emissionsfreie Autos, für die ich auf einer Betriebsversammlung vor zehn Jahren
noch ausgepfiffen worden wäre. Auf der anderen Seite steigen die Emissionen
weiter. Das heißt, das eigentliche Anliegen ist mindestens so relevant wie vor
30 Jahren. Auch wenn Frau Merkel sehr verständnisvoll über Klimaschutz reden
kann, real ist wenig bis nichts passiert – ja, es wird von Deutschland
blockiert, was dringend nötig wäre: höhere europäische Klimaziele, strengere
Verbrauchsobergrenzen.

ZEIT: Ist das nicht auch eine Gefahr für die Bewegung, dass sie
sich von den Mächtigen vereinnahmen lässt?

Trittin: Gerade dort liegt ja ein interessantes Paradox: Kohl etwa
hätte auf die Proteste niemals so tolerant reagiert wie Merkel, der hätte
natürlich gesagt: Die sollen mal zur Schule gehen. Aber dennoch war die
Klimabilanz unter Kohl besser als unter Merkel, die zwar zugewandt spricht,
während über zwölf Jahre die Emissionen stagnieren und nicht zurückgehen. Die
Gefahr liegt also darin, dass die Offenheit gegenüber solchen Bewegungen die
Dramatik der politischen Realität verschleiert.

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