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Großbritannien: Der Brexit zerreißt die Parteien

Mittlerweile kommen sie fast täglich, die Rücktritte der britischen
Abgeordneten. Mal erlebt das Parlament, dass einem Abgeordneten der
Geduldsfaden reißt und er wütend seinen Austritt aus der Partei
verkündet. Mal ist es eine Gemeinschaftsaktion von mehreren
Abgeordneten, die ihren Ausstieg erklären. Meist aber geschieht es leise
– die Rücktrittserklärung wird auf Twitter verbreitet.

Die
Rücktritte kommen von rechts und von links, von Labour und den
Konservativen, von Brexit-Verfechtern und EU-Anhängern. Am Montag
erklärte der konservative Abgeordnete Nick Boles im Parlament, er könne es nicht mehr ertragen, wie seine
eigenen Kolleginnen und Kollegen jeden Brexit-Kompromiss sabotierten. Er
trat zurück. Am Mittwoch folgten zwei Tory-Regierungsmitglieder vom
anderen Ende der Partei, “weil Sie ja jetzt einen Deal mit diesem
Marxisten ausmachen, der sich noch nie um das Land gekümmert hat”, so
der Vorwurf gegenüber Regierungschefin Theresa May.

Der Brexit
zerreißt die Parteien. Er treibt einen Keil in das Gefüge von Loyalität,
Parteidisziplin und Gesinnung. Er sät Streit, zerbricht Freundschaften.
“Es ist hart, die Partei zu verlassen. Für viele von uns ist die Partei
unser Leben, unsere Berufung. Für manche Kollegen ist es sehr schwer,
diesen Schritt zu gehen – es ist traumatisch”, sagt Anny Soubry, die im
Februar aus der Konservativen Partei austrat, “weil wir komplett von den
Hardlinern übernommen wurden”.

Noch nie sind in einer so relativ
kurzen Regierungszeit so viele Abgeordnete aus der Partei ausgetreten –
nicht unter dem früheren Premierminister Tony Blair während des Streits
um den Irak-Krieg und auch nicht unter Margaret Thatcher während der
Auseinandersetzungen um die Poll-Tax, einer Kopfsteuer.

Der
Brexit trifft geschwächte Parteien. Labour und Tories haben ihre
Schlüsselrolle in der Gesellschaft verloren. Der Kampf für die Rechte
der Arbeitnehmer mit den Gewerkschaften im Rücken gibt Labour heute
keine Daseinsberechtigung mehr. Die Bekenntnis zur liberalen
Wirtschaftsordnung und zur Thatcher-Politik reicht für die Konservative
Partei auch nicht mehr aus. Die Zahl der Parteimitglieder der Tories ist
von 1,8 Millionen in den achtziger Jahren auf 124.000 Wähler
eingebrochen. Damit sind die Konservativen so groß wie die schottische
Partei SNP. Labour hat 560.000 Mitglieder.

Der technische
Fortschritt, Globalisierung, Umweltprobleme und gesellschaftliche
Herausforderungen rufen nach einem breiten Spektrum von Lösungen. Sie
werden durch Meinungsvielfalt geboren. Die Fragmentierung der großen
Volksparteien hat in Kontinentaleuropa daher schon Tradition.
Deutschland hat mittlerweile sieben starke Parteien im Bundestag.

In
Großbritannien bekommen kleine Parteien keinen Fuß in die Tür. Selbst
Nigel Farage brachte es mit der UKIP-Partei und 3,8 Millionen Stimmen
(12,6 Prozent) nach der Parlamentswahl 2015 mal gerade auf einen
Abgeordneten im Parlament. Labour und Konservative erzielen bei Wahlen
jeweils etwa 40 Prozent der Stimmen und beherrschen damit das Parlament.

In
einem System, in dem Delegierte kleiner Parteien keine Chance haben als
Abgeordnete ins Parlament zu ziehen, werden neue Parteien kaum
gegründet. In Deutschland hätten die Brexit-Hardliner
höchstwahrscheinlich eine eigene Partei. Im britischen Wahlsystem haben
sie jedoch mehr Einfluss, wenn sie unter dem Dach einer Volkspartei klug
organisiert sind. So wie die European Research Group der
Brexit-Hardliner mit ihrem Vorsitzenden Jacob Rees-Mogg, eigenen
Sitzungen und einem eigenen “Parteiprogramm”. Als Partei in der Partei
stellen sie etwa 60 konservative Abgeordnete im Parlament. Zwanzig
Hardliner von ihnen, selbst ernannte Spartakisten, bekämpfen die
Brexit-Politik von Theresa May bis zum bitteren Ende. Sie haben
eigentlich in der Partei kaum etwas zu suchen.

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