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Demonstrationen: Plötzlich: Bewegung

Alle großen Revolutionen der Geschichte begannen auf der Straße. Sie ist
der Ort, an dem sich die Unzufriedenheit des Volkes zeigt; auf der Straße verlangen die Bürger
nach dem, was ihnen in der Politik fehlt. Und im Moment scheint dem Volk sehr viel zu fehlen.
Fast überall in Europa, und auch in Deutschland.

Mehr als 100.000 Menschen protestierten am vorvergangenen Wochenende gegen die geplante
Reform des europäischen Urheberrechts. Ein Wochenende zuvor demonstrierten mehr als 300.000
Schüler für den Klimaschutz. Auch an diesem Freitag werden Zehntausende die Schule schwänzen,
um für eine wirksamere Umweltpolitik zu streiken.

Die Proteste werden größer, und ihre Zahl nimmt zu. Im Jahr 2008 wurden in Berlin noch 2345
Demonstrationen angemeldet, 2018 waren es bereits 4446. In Frankfurt verdoppelte sich die Zahl
der Demonstrationen ebenfalls, in Köln verdreifachte sie sich sogar.

Viele der Kundgebungen sind klein, die Anliegen spezifisch. Im Januar wurde in Wuppertal für
die artgerechte Haltung eines Affen im Zoo demonstriert. 100 Teilnehmer. In Stuttgart Anfang
März für den Diesel. 2000 Teilnehmer. In Oldenburg Ende März für mehr Tierschutz in der
Landwirtschaft. 1000 Teilnehmer. All diese Proteste, auch die scheinbar kleinen oder sehr
speziellen, sind Ausdruck eines Wiedererwachens.

Es gab in Deutschland schon einmal eine Zeit der Straßendemonstrationen, von der Politiker
wie Jürgen Trittin berichten können (siehe Interview auf der nächsten Seite). Sie verliefen
teils friedlich, teils kam es zu Gewalt. Auch der Wiedervereinigung gingen Massenproteste
voraus.

Die neuen Demonstranten ziehen ihre Kraft nicht in erster Linie aus traditionellen Lagern
oder Bündnissen, aus Parteien oder Gewerkschaften. Sie organisieren sich in WhatsApp-Gruppen,
mobilisieren Freunde und Mitschüler über Instagram oder YouTube. Und sie profitieren davon,
dass sie glaubhaft versichern können, wirklich unabhängig zu sein. Luisa Neubauer etwa, das
deutsche Gesicht der Klimabewegung, ist zwar Mitglied bei den Grünen. Aber die Grünen stecken
nicht hinter den Protesten.

Demonstrationen sind oft die ersten Anzeichen dafür, dass etwas Neues kommt. Lange bevor die
AfD in den Bundestag einzog, formierte sich Pegida. Aber das Volk geht auch auf die Straße,
wenn bald etwas endet: Mit der Kanzlerschaft von Angela Merkel läuft eine politische Ära aus,
und viele Bürger scheinen den Eindruck zu haben, dass die Probleme größer sind als das, was
die Regierung als Lösungen anbietet. In einer Umfrage waren zuletzt 70 Prozent der Deutschen
unzufrieden mit der Koalition, das Forsa-Institut bilanzierte vor einiger Zeit eine
“beispiellose Vertrauenserosion” der Bürger gegenüber den demokratischen Institutionen. Man
könnte sagen: Die Menschen auf der Straße sind der Politik voraus. Sie wollen etwas Neues,
lange bevor es da ist.

Eine eigentlich selbstverständliche Feststellung genügte, um die “Fridays for Future” zu
entzünden: Ihr Politiker habt Verträge unterschrieben, wir Schüler bitten euch, sie
einzuhalten. Diese brave, im Grunde konservative Forderung nach Vertragstreue und
Pflichterfüllung bringt seit Wochen überall im Land die Schüler auf die Straße und die Politik
in Erklärungsnot. Es wirkt, als würden sich plötzlich alle, die Politiker und das Volk, wieder
daran erinnern, was im Grundgesetz steht: “Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.”

Wie nachhaltig sind die Proteste, wie sehr werden sie das Land verändern? Wie reagieren die
ohnehin verunsicherten Parteien? Und ist der neue Straßenkampf wichtig – oder bloß lästig?

Dortmund, 30. März: Eine digitale Bewegung

Samstagnachmittag, die Frühlingssonne scheint, Haupteinkaufszeit. Menschenmassen schieben
sich durch die Fußgängerzone in der Innenstadt. Irgendwo dazwischen: 15 Demonstranten. Sie
tragen neongelbe Warnwesten und sind mit einem Megafon ausgestattet. “Beendet den
Pornounterricht an den Schulen”, dröhnt es den Passanten in den Ohren, dazu ein akustisches
Warnsignal aus dem Megafon, und: “Palästina brennt!” Kaum einer der Fußgänger bleibt
stehen.

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