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Periodensystem: Der Bauplan der Chemie

Etwas, das nirgendwo auf Erden vorkommt und doch den Regeln der Natur
entspricht. Etwas, so winzig und selten, dass es in keinem krasseren Missverhältnis stehen
könnte zum Aufwand, der nötig ist, um es zu erschaffen. Eine zehn Hektar messende
Forschungsanlage, in deren Mitte eine fabrikgroße Experimentierhalle sitzt, in deren Zentrum
eine hundertzwanzig Meter lange Röhre mündet – hier werden exotische Atome erzeugt. Zwei davon
tragen den Ort ihrer Gestaltwerdung im Namen: Eines heißt Hassium, eine Latinisierung des
Bundeslandes Hessen. Das andere heißt Darmstadtium.

Die Röhre ist eine Art Kanone für Ionen, die Forscher hier nennen sie etwas vornehmer “Linearbeschleuniger”. Ionen sind geladene Teilchen. Starke elektrische Felder treiben sie durch die Röhre, bis sie ein Zehntel der Lichtgeschwindigkeit erreichen. Mit diesem Tempo treffen sie auf hauchdünne Plättchen. Fliegt etwa ein Nickel-Ion aus der Röhre genau ins Zentrum eines Bleiatoms im Plättchen, so verschmelzen Geschoss und Ziel zu etwas Neuem.

“Das ist Fusion, zwei existierende zu einem neuen Atom zusammenzufügen.” Michael Block ist Physiker und Forschungsgruppenleiter am Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung in Darmstadt. Blei plus Nickel gleich Darmstadtium. Nachdem Block dieses Rezept erklärt hat und bevor er ins Detail geht, sagt er: “Grob gesagt ist das wie beim Legobauen.”

Natürlich ist dies eine sehr untertriebene Darstellung, und es ist eine stark geraffte. Denn Atome zusammenzufügen ist – bei riesigem technischen Aufwand – eine Geduldsarbeit. “Nur sehr selten gelingt es”, erzählt Block. “Beim Copernicium etwa entstand höchstens ein Atom pro Woche, auch wenn der Beschleuniger rund um die Uhr lief und dabei pro Stunde circa fünf Billionen Ionen als Projektile auf die Zielplättchen geschossen wurden.” Fünf Billionen, das sind fünftausend Milliarden. Man könnte sagen: Sie brauchen hier sehr viel für sehr wenig.

Die Forschung der Darmstädter wirkt ziemlich speziell, doch sie berührt etwas Grundlegendes: unser Verständnis von den Bausteinen der Welt.

Jedes Mal, wenn hier ein sehr seltenes Etwas erzeugt wird, steht es in unmittelbarem Zusammenhang mit jenem Stück Kulturgut, dessen Urform sich vor 150 Jahren offenbarte, das heute so viele Labors schmückt und praktisch jeden Chemiesaal auf Erden: das “Periodensystem der Elemente” mit seinen charakteristischen Zwei-Buchstaben-Kürzeln. In Darmstadt wurden ihm weitere hinzugefügt.

1981 begannen die Forscher hier ein säkulares Schöpfungswerk. Binnen 15 Jahren stellten sie neben Hassium (Hs) und Darmstadtium (Ds) noch vier weitere Elemente her: Bohrium, Meitnerium, Roentgenium und eben Copernicium – abgekürzt Bh, Mt, Rg und Cn. Später konnten sie, was in der Naturwissenschaft fast ebenso wichtig ist, fünf weitere Kernkreationen bestätigen (“reproduzieren”), welche erstmals in anderen Labors geglückt waren: Nh, alias Nihonium, benannt nach seinem Herkunftsland Japan
(Nihon),
die russischen Kreationen Flerovium (Fl) und Moscovium (Mc) sowie Livermorium (Lv) und Tennessine (Ts), die zwar US-Ortsnamen tragen, aber ebenfalls in Dubna bei Moskau zum ersten Mal erzeugt wurden.

Sie waren jeweils die größten, schwersten, seltensten Atome, die bis dato existierten. Daher auch der sperrige Name “Schwerionenforschung”. Wobei ein Schwerionenforscher unter Existenz etwas anderes versteht als ein Laie. Das in Darmstadt erzeugte Copernicium etwa überdauerte keine Millisekunde, bevor es zerfiel.

Ein Bereich der Experimentierhalle ist mit groben Steinblöcken ummauert. Sein Inneres ist tabu, sobald der Ionenstrahl angeschaltet wird. Jenseits der Mauer warten Detektoren, Lasermessvorrichtungen, mannshohe Elektromagneten auf die neu erschaffenen Atome – oder wenigstens auf ihre Überbleibsel. “Oft messen wir gar nicht das erzeugte Element selbst”, sagt Block, “sondern wir identifizieren das erzeugte Element durch die Messung seiner Zerfallsprodukte. Daraus ziehen wir unsere Rückschlüsse.”

Sind diese Elemente eigentlich natürlich, weil sie den Naturgesetzen entsprechen? Oder synthetisch, weil ihre Existenz erst erzwungen werden musste? “Künstliche Atome”, antwortet Michael Block. “Wir sagen das so, weil wir sie künstlich hergestellt haben.”

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