/Manipulationsverdacht: Psychiatriestudie unter Verdacht

Manipulationsverdacht: Psychiatriestudie unter Verdacht

Hat einer der renommiertesten Psychiatrieforscher Deutschlands eine der wichtigsten Psychiatriestudien der vergangenen Jahrzehnte manipuliert oder manipulieren lassen? Diesem Verdacht geht eine Untersuchungskommission der TU Dresden seit Mitte Februar nach. Am vergangenen Montag haben die Mitglieder der Kommission entschieden, ein förmliches Untersuchungsverfahren einzuleiten, da es bisher nicht möglich gewesen sei, “die Vorwürfe auszuräumen”.

Es geht um eine Studie mit dem nüchternen Titel
Personalausstattung in Psychiatrie und Psychosomatik,
die eine Tochtergesellschaft der TU Dresden unter der Leitung von Hans-Ulrich Wittchen durchgeführt hat. Wittchen leitete viele Jahre das Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der TU Dresden. Seine Studie sollte klären, wie die aktuelle Personalsituation in der deutschen Psychiatrie aussieht. Dazu wurde auch im Detail erhoben, was Ärzte, Psychotherapeuten und Pfleger im Alltag tun und wie lange sie jeweils dafür brauchen
(ZEIT
Nr. 12/19).

Die Vorwürfe, die nun geprüft werden, hatten Mitarbeiter der TU Dresden erhoben. Nach Berichten von
Buzzfeed News
und
Spektrum der Wissenschaft
soll es um den Verdacht gehen, dass bei Datenlücken die Angaben von bereits erfassten Kliniken einfach vervielfältigt wurden und so der Eindruck erweckt wurde, es seien mehr Kliniken berücksichtigt worden, als es tatsächlich der Fall war.

In Auftrag gegeben hatte die Studie der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA). Dieses zentrale Gremium des deutschen Gesundheitswesens will auf ihrer Grundlage eine neue Richtlinie dafür erarbeiten, wie viele Ärzte, Therapeuten und Pfleger in der Psychiatrie arbeiten sollen. Die derzeitige Personalverordnung ist hoffnungslos veraltet, sie stammt aus dem Jahr 1991. Und für viele neue Therapieformen, welche die Behandlung wirksamer und den Umgang mit den Kranken humaner machen sollen, ist vor allem eines nötig: mehr Personal. Es geht also um eine der wichtigsten Entscheidungen in der Psychiatrie seit Jahrzehnten.

DIE ZEIT 15/2019

Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 15/2019. Hier können Sie ab 17 Uhr die gesamte Ausgabe lesen.

Der G-BA hat die Studie bisher nicht abgenommen, wegen “offener Fachfragen und der in Rede stehenden Manipulationsvorwürfe”. Auf Nachfrage der
ZEIT
teilte der Ausschuss mit, nun sei “der Abschluss des Untersuchungsverfahrens zwingend abzuwarten”. Das kann dauern: Innerhalb eines halben Jahres soll das Verfahren beendet sein, es kann sich aber durchaus noch länger hinziehen.

Das gefährdet die neue Personalrichtlinie. Denn die soll der G-BA bereits Ende September vorlegen, so will es der Bundestag. Hält der G-BA die Frist nicht ein, könnte sich die Lage in der Psychiatrie verschlechtern statt verbessern: Psychiater befürchten, dass dann auch die Therapie psychisch kranker Menschen nach Fallpauschalen abgerechnet wird, ähnlich wie etwa Blinddarmoperationen. Und dieses Pauschalsystem enthält keine Untergrenzen für das Personal.

Einige Statistiker halten das Verfahren für “legitim”, es verfälsche das Ergebnis nicht

Ob etwaige Manipulationen das Ergebnis der Studie verfälscht haben, ist noch unklar. Hans-Ulrich Wittchen hat dem G-BA inzwischen zur Ausräumung der Vorwürfe ein Papier übergeben, das der
ZEIT
vorliegt. Darin äußern sich auch Statistiker, die nicht an der Studie beteiligt waren: Der Umgang mit fehlenden Daten entspreche der “gängigen Praxis” in der Statistik und verfälsche die Ergebnisse nicht. Das angewandte statistische Verfahren sei “legitim” und “keine Manipulation”.

Jetzt müssen die TU Dresden und der G-BA die Vorwürfe dringend klären. Zum einen geht es um den Verdacht wissenschaftlichen Fehlverhaltens, was schwer genug wiegt. Es geht aber auch um eine weitreichende Entscheidung für sehr viele Patienten: Mehr als 1,2 Millionen Mal werden Menschen jährlich in deutschen Kliniken behandelt, weil sie psychisch erkrankt sind. Diese Patienten brauchen eine angemessene Zahl von Ärzten, Therapeuten und Pflegern.

Würde die Entscheidung darüber verschoben, könnte das zu Unterversorgung führen. Genauso
fatal wäre es jedoch, würde pünktlich, aber am grünen Tisch entschieden – ohne die Daten aus
dem Klinikalltag. Die sollten ja endlich zeigen, wie die Lage in der Psychiatrie tatsächlich
ist.

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