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Soziale Netzwerke: Das Internet vergisst also doch

Von wegen “das Internet vergisst nicht”: Innerhalb
von zwei Wochen sind gleich drei Plattformen ganz verschwunden oder teilweise
gelöscht worden, die ganze Perioden der Netzgeschichte repräsentieren. Google+,
das erfolglose soziale Netzwerk der US-Internetfirma Alphabet, wird am 2. April
eingestellt
. MySpace, das frühe soziale Netzwerk der Nullerjahre,
musste am 18. März zugeben, dass man dort alle Fotos, Videos und Tondateien
unwiederbringlich gelöscht hatte
, die Nutzer zwischen 2003 und 2015 dort
hochgeladen hatten. Um ein Gefühl für die Dimensionen zu bekommen: allein 50
Millionen Songs sind dabei abhandengekommen, gepostet von den mehr als 14 Millionen
Nutzern der Seite. Und auch die japanische Version von Geocities, einem
Webhoster, über den Netznutzer sich seit 1994 eigene Homepages einrichten konnten,
wurde Ende März eingestellt und alle seine Seiten endgültig gelöscht.

Google+ war von Beginn an das Ordos der
Netzkultur – die chinesische Geisterstadt, die für 300.000 Bewohner gebaut
wurde, in der aber nach Vollendung 2012 nur 3.000 Menschen leben wollten.
Als Google+ im Sommer 2011 den Betrieb aufnahm, hatte es bereits keine Chance
mehr gegen Facebook, das schon sieben Jahre früher gestartet war. Aufgrund der
Verwebungen mit anderen Google-Produkten und teils auch wegen des Hypes der
Anfangszeit legten zwar Millionen Nutzer Google+-Konten an, doch nur ein Bruchteil nutzte sie auch. 

Jahrelang dämmerte der
Dienst dennoch vor sich hin. Als im Oktober und Dezember 2018 Fehler bekannt
wurden, die App-Entwicklern den potenziellen Zugriff auf nicht-öffentliche Daten von Millionen Google+-Nutzern ermöglichten, nutzte Google das Ereignis, um das Aus seines sozialen Netzwerks
zu verkünden, bei dem ohnehin nur noch wenig Interaktion zu verzeichnen waren.

Ist Google+ das Ordos der Netzkultur, dann war
Geocities das Forum Romanum. Hier hatten viele Netznutzer in den frühen Tagen des
World Wide Web ihre erste Onlinepräsenz. Im “Cyberspace”, wie man damals sagte.
Geocities war nach dem Vorbild einer Stadt organisiert, deren Viertel nach
verschiedenen Interessensgebieten benannt war: Während es in “Hollywood” um
Filme und Stars ging, waren die Webseiten zum Thema Kunst in “SoHo” und
die über Wein in “Napa Valley” zu finden. Innerhalb von 15 Jahren sind
dort fast 40 Millionen Seiten entstanden, die 2009 noch mehr als 150 Millionen
Mal angeklickt wurden.

Obwohl die Kommunikationsmöglichkeiten bei
Geocities eingeschränkt und vieles technisch unzulänglich war, diente Geocities
als Brutstätte für viele Phänomene, die heute als charakteristisch für die
Netzkultur gelten. Im Grunde war der Webhoster eine Art soziales Medium, bevor
man diesen Begriff überhaupt nutzte. Hier waren einige der frühesten
Gif-Animationen zu bewundern, die sich von einer Webseite zur nächsten viral
fortpflanzten. Hier schlossen sich Gleichgesinnte in sogenannten Webrings
zusammen, einer Art frühen Filterblase. Und hier entstand eine bizarrer Stil des Webdesigns, dessen Exzesse
sich mit den grellen Farben, primitiven Grafiken und
blinkenden Hintergründen zum funktionalistischen Stil heutiger Webseiten
verhält wie der Jugendstil zum Bauhaus.

Anders als das Forum Romanum, das fast 1.400 Jahre
lang Zentrum und Versammlungsort Roms war, existierte Geocities allerdings
gerade einmal anderthalb Jahrzehnte: bereits 2009 beendete Yahoo, das die Firma
1999 gekauft hatte, den Betrieb des Angebots, das nie profitabel geworden war.
Von einem auf den anderen Tag gab es hier nichts mehr zu sehen: Alle
Homepages – die meisten von ihnen schon seit Jahren nicht mehr gepflegt –
verschwanden, kurz nachdem man die Betreiber vorgewarnt hatte. Nur in Japan, wo
Yahoo bis heute zu den wichtigsten Nachrichtenseiten zählt, überlebte Geocities
bis zur vergangenen Woche. Am 30. März wurde es auch hier eingestellt
und alle Seiten gelöscht.


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