/Syrien: Die Welt darf die Kämpfer in Syrien nicht ignorieren

Syrien: Die Welt darf die Kämpfer in Syrien nicht ignorieren

Bei meinem Besuch im Lager Al-Haul in
Syrien in der vergangenen Woche habe ich Zehntausende Menschen in Not gesehen. Sie strömten
nach heftigen Kämpfen aus Hadschin und Al-Baghuz, der letzten Hochburg des
“Islamischen Staats” in Syrien, in das Lager. 90 Prozent der Menschen hier sind Frauen
und Kinder – syrische und irakische Staatsbürger sowie Menschen aus mindestens
30 anderen Ländern. Viele von ihnen sind verwundet, heimatlos und hungrig. 

Doch die Bedingungen in dem Lager sind miserabel. Mit dem Ende des Kalifats scheint heute
der starke Wunsch vorzuherrschen, IS-Kämpfer mit ihren Familien auszugrenzen
und in einem kollektiven Schuldspruch sowie aus Rache für ihr Verhalten im Krieg
in ein schwarzes Loch des Vergessens wegzusperren. Wir müssen diesen Gedanken der
Vergeltung und Stigmatisierung überwinden und stattdessen den Weg in eine
gerechtere Gesellschaft ebnen.

Länder auf der ganzen Welt müssen
Verantwortung für ihre Bürgerinnen und Bürger übernehmen, ordnungsgemäße
Gerichtsverfahren gewährleisten und physische, psychologische und psychosoziale
Unterstützung für eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft bereitstellen.
Gleichzeitig dürfen Menschen, denen in ihrem Heimatland Verfolgung droht, nicht
gegen ihren Willen dorthin zurückgeschickt werden; deshalb sind umfassende und
gemeinsame Bemühungen erforderlich.

Dabei ist es keine Lösung, an Länder, die gerade erst den Krieg
hinter sich gelassen haben, hohe Sicherheitsanforderungen zu stellen. Auch dürfen die lokalen Behörden im Umgang mit den
komplexen globalen Problemen nicht alleingelassen werden. Vielmehr ist es dringend erforderlich, innerhalb und außerhalb der
Lager entschiedene humanitäre Hilfe zu leisten und die örtlichen Stellen langfristig zu unterstützen.

Systematische Gräueltaten

Mir ist bewusst, dass die extreme Gewalt
in Syrien und im Irak auf dem Höhepunkt des Konflikts die Welt krank gemacht
hat. Hunderttausende Menschen wurden getötet
oder verstümmelt. Wohnhäuser wurden zerstört. Spitäler wurden wiederholt
bombardiert. Laut einem Bericht der Vereinten Nationen wurden chemische
Waffen gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt
. Grauenhafte Hinrichtungen wurden zu Propagandazwecken gefilmt. Sexuelle Gewalt ist zu einer generellen Methode
der Kriegsführung geworden. Kurzum wurden von viel zu vielen Seiten
systematisch Gräueltaten begangen.

Es ist verständlich, sich reflexartig
von den Schwierigkeiten im Umgang mit den Folgen abzuwenden. Dennoch dürfen
sich die Staaten nicht vor ihrer Verantwortung drücken. Der Status quo ist unhaltbar.
Gewalt und Instabilität im Lager werden im Laufe der Zeit nur zunehmen und die
ganze Region weiter destabilisieren.

Ich fordere die Staaten auf, sowohl die
dringend benötigte humanitäre Hilfe zu unterstützen, als auch ihre
Rechtsprechung und Sicherheitsbestimmungen mit einer humanen Lösung in Einklang zu bringen. Es ist kompliziert und es ist
emotional, aber einfach nicht zu handeln, wäre aus moralischer und
sicherheitspolitischer Sicht eine Katastrophe.

Dutzende Kinder erfroren

In den letzten Wochen sind wegen der
Kälte Dutzende Kinder im Lager gestorben. Natürlich hat der rasche Zustrom an
Menschen alle überrascht; wir alle waren darauf nicht vorbereitet. Aber diese
Kinder verdienen es nicht, aus Rache zu sterben; sie verdienen unsere Hilfe und
Menschlichkeit. Im Krieg können wir zu den
gewalttätigsten Versionen von uns selbst werden. Dem müssen wir jene Eigenschaften entgegensetzen, die uns als Menschen auszeichnen.

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