/Radiosender Tide: “Wir befürchteten Zensur”

Radiosender Tide: “Wir befürchteten Zensur”

130 verschiedene Radiosendungen pro Monat, mehr als 300 vor
allem ehrenamtliche Mitarbeiter, die das Programm gestalten – Projekte mit Schulklassen
oder anderen Kinder- und Jugendgruppen noch gar nicht einberechnet. Der
Hamburger Kanal Tide, größter Bürgerradiosender in ganz Deutschland, wird 15
Jahre alt. Abzusehen war diese Erfolgsgeschichte nicht. Tide gibt es nur, weil
der Offene Kanal nach einer Änderung des Landesmediengesetzes im Jahr 2003
abgeschaltet wurde und ein paar ehemalige Mitarbeiter das Radiomachen nicht
aufgeben wollten. Heute gibt es auch einen eigenen TV-Sender, produziert wird in professionellen Studios, getragen
wird der Sender von der Hamburg Media School. Dennoch: Ohne Improvisation ging
anfangs nichts. Peter Gehlsdorf, Leiter
der Redaktion des Bürgerradios, erinnert sich.

Als der Offene Kanal Ende Juni 2003 abgeschaltet wurde, war
auf der bisherigen Frequenz 96,0 nur Stille zu hören. Das ist natürlich
schlecht, irgendwann schaltet keiner mehr ein. Deshalb war schnell klar: Da
muss wieder Inhalt drauf! Tide war aber gerade erst im Entstehen. Außer dem
Chef gab es noch kein Personal und auch noch keine Infrastruktur. Wir haben
dann aus einigen Sendungen des Offenen Kanals ein Programm zusammengestellt,
das in Dauerschleife lief. Elf Sendungen, jeweils eine Stunde und dann wieder von
vorne. Eine Woche lief die CD mit den MP3-Dateien drauf durch, immer im
Repeat-Modus, dann gab es neue Folgen. Ich war damals mit einem Magazin für die
schwule Community vom Pink Channel dabei, daneben gab es zum Beispiel noch das
Unterhaltungsformat Crazy Station und Onda Latina, ein spanisch-portugiesisches
Programm. Die Dauer von elf Stunden hatte System, so kam zur gleichen Zeit
immer eine andere Sendung, falls jemand etwa täglich um 18 Uhr einschaltete.

Der Pink Channel hatte als Verein ein eigenes Studio, einige
der anderen haben ihre Sendungen zu Hause produziert und dann auf einer CD
vorbeigebracht. Hier in der Hamburg Media School, zu der Tide gehört, stand in
einem kleinen Raum ein CD-Player und ein Gerät für die Sendeleitung zum
Fernsehturm. Als wir zum offiziellen Start in andere Räume umgezogen sind, gab
es für ein paar Wochen keine solche Leitung. Da habe ich die CD mit unserer
Dauerschleifesendung einfach direkt zu den Technikern in den Fernsehturm
gebracht.

Peter Gehlsdorf leitet die Redaktion des Bürgerradios bei Tide und war von Anfang an dabei.

Peter Gehlsdorf leitet die Redaktion des Bürgerradios bei Tide und war von Anfang an dabei.
© TIDE/Timo Remmers

Eigentlich wollte ich, dass der Offene Kanal gar nicht
abgeschaltet wird. Dafür habe ich ein halbes Jahr lang gekämpft. Wir haben
einen Verein gegründet und eine Petition gestartet. Damals mussten wir die
Unterschriften noch auf Papier sammeln. Aber es hat nichts genützt. Die
Politiker wollten es so. Sie empfanden uns als zu links, zu schwul und zu
ausländisch. Wir hatten beim Offenen Kanal auch viele Sendungen auf anderen
Sprachen wie Afghanisch zum Beispiel. Dort herrschte Krieg, das Thema Terror
kam auf und darum ging es auch in manchen Sendungen. Das gefiel einigen nicht.
Aber auch eine schwule Fernsehsendung, die extrem freizügig war, sorgte für
einen Eklat. Beim Offenen Kanal war jeder für seine Sendung
rundfunkrechtlich selbst verantwortlich.

Beim neu gegründeten Sender Tide
herrschte das Chefredakteursprinzip. Das heißt, einer kann aussuchen und
entscheiden. Das war für uns alte Hasen eine bedeutende Veränderung. Wir
befürchteten Zensur. Trotzdem habe ich mich gleich am Anfang ganz frech
beworben. Ich war gerade auf Arbeitssuche, ein Quereinsteiger mit fast zehn
Jahren Erfahrung vom Pink Channel – und wurde prompt als Zuständiger fürs
Radioprogramm eingestellt. Ich habe die Leute, die ich vom Offenen Kanal her
kannte, kontaktiert und viele von denen sind mit ihren Sendungen zu Tide
gewechselt.

Am 1. April 2004 gingen wir mit dem neuen Bürger- und
Ausbildungskanal offiziell an den Start. Die Dauerschleife-CD hatte ausgedient.
Unsere Befürchtungen bewahrheiteten sich zum Glück nicht: Tide bietet heute
einen offenen Zugang zum Medienmachen – und sogar noch mehr. In unserer
Akademie bringen wir den Leuten journalistisches Handwerkszeug bei. Es gibt mehr
als 50 Kurse, bei denen man zum Beispiel das Moderieren lernt oder erfährt, wie
sich die Studiotechnik bedienen lässt. Außerdem geben wir den Produzenten und
Produzentinnen der Radiosendungen regelmäßig Feedback zu ihren Formaten. Die
Sendungen klingen deshalb auch viel besser als früher im Offenen Kanal.

Hits: 4