/Massaker von Kerala: Der Befehl

Massaker von Kerala: Der Befehl

Ein alter Mann öffnet die Tür. Am Ende einer Suche, die mehrere Monate dauerte und Tausende Kilometer entfernt in den Bergen Afghanistans begann, steht er im Eingang eines Reihenhauses in Rotterdam. “Guten Abend”, sagt Sediq Alemyar.

Er zögert kurz und bittet dann hinein. Das Licht der Flurlampe fällt auf sein Gesicht. In seiner Heimat hatte sich niemand an sein Gesicht erinnern können. Es ist ganz schmal. Tiefe Falten haben sich um seine Mundwinkel gelegt. Alemyar trägt Pantoffeln und Trainingsanzug. Die Brille sitzt schief auf seiner Nase. Das lockige Haar von einst ist einer Glatze gewichen. Er läuft gebeugt ins Wohnzimmer, zeigt auf das Sofa. “Bitte”, sagt er.

Alemyar lässt sich in seinen Sessel fallen. Ein freundlicher Rentner, der so aussieht wie die meisten Pensionäre im Vorort Ijsselmonde. Er, der sich in Philosophie auskennt, gerne über Karl Popper diskutiert, der verehrt wird von seinen vier Kindern, der seine beiden Töchter zum Lachen bringt, soll der Mörder von 1.260 Menschen sein. Diese Schreckenstat gilt als der Beginn des bis heute andauernden afghanischen Bürgerkriegs.

In den Morgenstunden des 20. April 1979 töteten Regierungssoldaten in Kerala, einem Dorf im äußersten Osten Afghanistans, die Hälfte der Bevölkerung. Laut Aussage von Zeugen war Alemyar einer von denen, die die Befehle dazu gaben. Das Massaker ist eine der schlimmsten Gräueltaten, die in Afghanistan je begangen wurden. Es brachte viele Afghanen gegen die damaligen kommunistischen Machthaber auf. Soldaten liefen zu den aufständischen Mudschahedin über, die Armee drohte zu kollabieren – worauf die afghanischen Kommunisten die Sowjets zu Hilfe riefen. Ein Krieg mündete seither in den anderen, Sowjets kämpften gegen Mudschahedin, die Mudschahedin untereinander, Taliban gegen Mudschahedin, dann der Krieg der USA gegen die Taliban, den jetzt, 2019, die Taliban zu gewinnen drohen. Nie ist einer der Verantwortlichen des Massakers von Kerala verurteilt worden.

“Im Unglück bin ich geboren”, sagt Sediq Alemyar auf seinem Sessel in Rotterdam, “im Unglück werde ich sterben.” Immer wieder weicht er aus. Er wird zornig, ist kurz davor, das Gespräch abzubrechen. Dann wird er rührselig, weint fast. Niederländische Staatsanwälte haben zehn Jahre lang versucht, Alemyar anzuklagen, die Beweise reichten nicht aus. Irgendwann beginnt er doch zu erzählen. “Wenn ich mein Leben noch einmal leben dürfte, würde ich alles anders machen. Was habe ich getan in meinem Leben? Ich habe nichts aufgebaut. Ich habe nur vernichtet.”

Diese Reportage versucht das vermeintlich Unmögliche: Sie sucht die Spuren eines vor 40 Jahren verübten Verbrechens in einem Land, in dem seitdem so viele Verbrechen geschahen. Es ist die Suche nach der afghanischen Ursünde. Eine Reise zu den Ursprüngen des Hasses.

Abdul Rahman Bahari, damals 16, wurde Zeuge der Morde.
© Andy Spyra

Abdul Rahman Bahari umfasst das Vorhängeschloss, das das alte Eisengatter verriegelt. Es ist Ende Januar, Wolken verhängen die Berge, es regnet in Kerala. “Wir müssen uns beeilen”, sagt er. Bald wird sich im Dorf herumsprechen, dass Ausländer hier sind. Am Ende der Straße steht eine Gruppe Jugendlicher, die zu uns herübersehen. Vermutlich sind sie nur neugierig. Er öffnet das Tor.

“Das ist es”, sagt er.

Ein leeres Feld, von einer Mauer umfasst. Trockene Grasbüschel auf schwarzer Erde. Kaum etwas gedeiht an diesem Ort. Das Feld ist nur wenige Quadratmeter groß. Bahari kennt die Abmessungen genau. 26,7 Meter quer, 23,6 Meter lang. “Wir haben zuletzt Rosen gepflanzt, aber auch sie sind eingegangen.” Am Rand des Feldes wächst ein ausladender Dornbusch, er ist von selbst gewachsen. Unter ihm ein kleiner Hügel. “Die Erde senkt sich”, sagt Bahari, dessen Familie den Schlüssel zu diesem Feld verwahrt und seit Jahren beobachtet, wie sich der Hügel verändert. “Er wird immer flacher.” Dreimal so hoch wie heute sei er früher gewesen, mannshoch fast. Ein Bagger hat ihn vor 40 Jahren aufgeschoben, aus Steinen und Dreck und den Leibern Hunderter Toter, des Vaters von Bahari, von fünf seiner Onkel und fast allen Jungs, die mit ihm in die gleiche Klasse gingen. Es heißt, dass einige noch lebten, als der Bagger sie begrub. Die Erde senkt sich, weil nun auch die letzten Knochen zerfallen.

Zwei Massengräber gibt es in Kerala, sie liegen einen Kilometer voneinander entfernt. Die Kommunisten hatten die Männer des Dorfes zu den Hauptmoscheen befohlen. Vor beiden Moscheen gab es damals einen offenen Platz, der für Versammlungen genutzt wurde. Mit dem Massaker wurden diese Plätze zu Friedhöfen. Nach wenigen Minuten am Grab drängt Bahari zur Eile, er schließt das Tor, seinen Wagen hat er gleich davor geparkt. Er sieht auf die jungen Männer, die immer noch vom Ende der Straße sehr ernst zu uns herüberschauen. Wir fahren an ihnen vorbei und sind erleichtert. Auch 40 Jahre nach dem Massaker ist es nicht sicher in Kerala.

Eines der beiden Massengräber
© Andy Spyra

Afghanistan im Winter 2019. Kämpfe in fast allen Provinzen, eine Regierung in Kabul, die so gut wie unter Belagerung steht. Die Taliban, die nach der Intervention der USA 2001 besiegt schienen und jetzt weite Teile des Landes zurückerobern konnten. Achtzehn Jahre lang haben sich die USA mit Bomben und Dollars bemüht, den Gebirgsstaat zu befrieden. Nun scheinen sie kriegsmüde zu sein. Sie verhandeln gegenwärtig in Katar mit den Führern der Taliban über die Frage, ob sie ihre Truppen in drei Jahren abziehen oder bereits in sechs Monaten. Viele Beobachter rechnen mit dem baldigen Sturz der Regierung. Die Provinz, die als erste von den Taliban überrannt werden könnte, ist Kunar, benannt nach dem gleichnamigen Fluss, ihre Hauptstadt ist Asadabad. Gleich neben der Stadt liegt das Dorf Kerala.

Früher bestand das Dorf nur aus ein paar Dutzend Häusern, es ist zu einer Kleinstadt herangewachsen. Es füllt eine Talaue und zieht die steilen Berghänge empor. In seiner Mitte die asphaltierte Nationalstraße. Fast lückenlos säumen Läden zu beiden Seiten die Straße. Je weiter man sich von ihr entfernt, desto mehr Felder tun sich auf zwischen den Häusern, dünnt das Dorf aus, bis der braune Stein der Häuser in den Steilhängen ganz oben in den braunen Stein der Berge übergeht. Zentrales Bauwerk in Kerala ist seit Jahrzehnten die Brücke über den Fluss Pech. Im Gewirr der Häuser und Gassen wirkt sie wie ein Monolith der Moderne, gebaut in den Siebzigern, makellos noch immer.

Acht Tage bleiben wir, um Augenzeugen des Blutbads zu finden. Unser Team besteht aus sechs Mitgliedern – einem Übersetzer, zwei Gewährsleuten, die den Schutz lokaler Stämme garantieren, zwei Fahrern und einem Bodyguard, auf dem unsere Begleiter bestehen. Jede Handlung muss mit äußerster Vorsicht geplant sein. Wir recherchieren über den Krieg von vor 40 Jahren und müssen uns gleichzeitig des Kriegs von heute erwehren.

Einzig in den frühen Morgenstunden, kurz nach Sonnenaufgang, wenn die Straßen noch fast leer sind, wagen wir, die Reporter, uns ins Dorf. Wenig später wimmelt es im Basar bereits von Menschen, und die Hauptstraße ist mit Autos verstopft. Die Regierung kontrolliert nur die Hauptstraße, und das auch nur tagsüber. Zum Osten hin, ab dem Ortsrand, herrschen die Taliban. Zum Süden hin: die Taliban. Zum Norden hin liegt das Pech-Tal: auch dort Taliban, bis sie vor wenigen Wochen von Mitgliedern des radikaleren “Islamischen Staates” geschlagen wurden. Seit einigen Jahren kämpft der IS, der in Syrien und im Irak gegründet wurde, auch im Osten Afghanistans. Die Lage von heute gleicht der Lage von 1979, als das kommunistische Regime im Tal von aufständischen Mudschahedin auf den Bergen belagert wurde.

“Wir sind müde, über das Vergangene zu reden”, erklärt einer der Ältesten von Kerala. Um uns herum, auf dem Teppich im Gebäude des Provinzrates, sitzt ein Dutzend weißbärtiger Männer. Sie sind unsicher, ob sie über das Massaker sprechen sollen. “Es ist alles sinnlos!”, sagt einer. So viele seien schon gekommen, um das Verbrechen zu untersuchen. Vor zwölf Jahren befragte sie ein Mitarbeiter des Afghan Justice Project, einer von George Soros finanzierten Hilfsorganisation. Der Mitarbeiter schrieb einen Bericht, der folgenlos blieb. Kurz darauf erschien ein Ermittler der staatlichen Menschenrechtskommission. Die schickte ihren Bericht an Präsident Hamid Karsai, ebenfalls folgenlos. Karsai hielt das Papier geheim, auch sein Nachfolger Aschraf Ghani tut das. Die Letzten, die die Ältesten befragten, waren die Staatsanwälte aus den Niederlanden, die 2017 gegen Sediq Alemyar ermittelten. Sie ließen Zeugen aus Kerala in ihre Botschaft nach Kabul kommen. Wieder wurde niemand verurteilt.

Die Ältesten von Kerala sind “müde, über das Vergangene zu reden”.
© Andy Spyra

“Schickt euch Alemyar?”, fragt einer. “Bezahlt er euch, damit ihr ihn entlastet?” – “Was könnt ihr ausrichten, wenn ihr doch keine Staatsanwälte seid?”, fragt ein anderer. Nach zwei Stunden hitziger Debatte lehnt der Rat ab, uns zu unterstützen, nach einer weiteren Stunde stimmt er dafür. Es sei die letzte Chance, sagt der Ratsvorsitzende, und dass man dies den Toten schuldig sei.

Wir treffen die nächsten Tage über ein Dutzend Zeugen, sie sind Zivilisten und ehemalige Kommunisten und Widerstandskämpfer. Jeder Zeuge malt uns detaillierte Karten, die das immer gleiche Dorf zeigen, die gleichen Flüsse, die gleiche Brücke, und doch erzählen sie ganz unterschiedliche Geschichten.

“Ich erinnere mich, im Namen Gottes, des Allmächtigen, und ich will davon erzählen.” Abdul Rahman Bahari, der uns zum Gräberfeld geführt hat, hockt im Schneidersitz vor uns. Zu dritt reden wir in einem Büro des Provinzrates, der Übersetzer sitzt zwischen uns. Bahari ist Mitte fünfzig, beleibt, ein freundlicher Mann, Vater von acht Kindern, von Beruf Geldwechsler und Mullah. Er trägt die weite traditionelle Kleidung wie alle hier, auf dem Kopf die flache Pakol-Mütze. Im Jahr 1979 ging er in die zehnte Klasse des örtlichen Gymnasiums und war 16 Jahre alt.

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