/Gazastreifen: “Jeden Augenblick kannst Du alles und jeden verlieren”

Gazastreifen: “Jeden Augenblick kannst Du alles und jeden verlieren”

Es sind entscheidende Tage für die Menschen in Gaza: Zuerst
ging die Hamas-Führung Mitte März gewaltsam gegen friedliche Demonstranten und Demonstrantinnen vor,
die Arbeitslosigkeit und Korruption anprangerten. Dann traf am Montag eine
Rakete aus dem Gazastreifen ein Wohnhaus nördlich der israelischen Stadt Tel
Aviv
, sieben Menschen wurden verletzt. Israel flog daraufhin Luftangriffe in Gaza und zog seine Truppen an der Grenze zu dem Küstenstreifen zusammen.

Aktuell gilt eine brüchige Waffenruhe – die Angst vor dem Ausbruch eines neuen
Krieges bleibt.

Seit bald zwölf Jahren ist der Gazastreifen abgeriegelt, nur
wenige Besucher kommen hinein, wenige Palästinenser können Gaza verlassen. Hier
erzählen drei Menschen aus Gaza, wie sie diese angespannten Tage erleben. ZEIT ONLINE hat jeden von ihnen im vergangenen Jahr persönlich getroffen. Die
folgenden Protokolle sind ein Zusammenschnitt aus mehreren Telefonaten der
vergangenen Woche. 

Mariam H.*, 28, Angestellte in einer Behörde und freiberufliche Journalistin, Mutter einer Tochter

Diese Tage laugen uns aus. Wir alle in Gaza wissen, dass es
zum Schlimmsten kommen kann, aber wir können nichts weiter tun, als abzuwarten. Wir
erfahren ja selbst nur aus den Nachrichten, dass eine Rakete aus Gaza nach
Israel geflogen ist. Und dann ist klar, es wird einen Gegenschlag geben, aber
wir wissen nicht, wann oder wo und wie stark. 

Ich lese dann israelische
Nachrichtenseiten. Zurzeit macht mir das, was da zu lesen ist, große Angst.
Israel und die Hamas haben wohl einen Waffenstillstand vereinbart, aber viele
in Israel scheinen das abzulehnen. Auf israelischen Seiten lese ich, dass viele
Politiker von Netanjahu fordern, in den Krieg zu ziehen, um die Hamas in Gaza zu
besiegen. Für uns wäre das eine Katastrophe. Im letzten Krieg sind mehr als 2.000
Menschen in Gaza gestorben. Außerdem: Was soll nach dem Krieg kommen? Ich denke,
dafür hat niemand einen Plan.

Vergangenes Jahr war ich hoffnungsvoll.

Mariam H.

Vergangenes Jahr war ich hoffnungsvoll, dass sich endlich etwas
ändert. Wir hatten riesige Proteste in Gaza. Viele Hunderttausend Menschen sind
jede Woche an die Grenze gegangen und haben demonstriert, das hieß der Marsch
für die Rückkehr. Die Idee dahinter hat mir gefallen: Dass wir Palästinenser
das Recht haben, dorthin zurückzukehren, woher unsere Großeltern vertrieben
wurden. Dass wir die gleichen Menschenrechte haben wie alle.

Ich glaube
eigentlich auch, dass das der einzig richtige Weg, um hier etwas zu
verändern, ist, friedlich zu demonstrieren. Aber dann kam die Gewalt. Die
israelischen Soldaten haben von der anderen Seite der Grenze auf uns
geschossen, mit Tränengas und mit scharfer Munition. Trotzdem wurde das ganze Jahr über weiter demonstriert, auch wenn immer weniger Menschen an den Zaun kamen. Inzwischen haben sie etwa
200 Menschen getötet. Und die Hamas hat die Leute trotzdem weiter ermuntert, zu
demonstrieren.

Ich habe eben einen Artikel gelesen, in dem eine ältere Frau
aus Gaza zitiert wird, die beim letzten Bombenangriff ihr Haus verloren hat.
Sie sagte: “Was mir passiert ist, ist die Zusammenfassung unseres Lebens in Gaza. Jeden Augenblick kannst du alles und jeden verlieren.” So fühle ich auch.

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Omar A.*, 50, Politikwissenschaftler, Vater von drei Kindern

Wenn die Bomben fallen, dann sitzen wir alle im Wohnzimmer
zusammen, meine drei Kinder, meine Frau und ich. Wir versuchen, uns abzulenken.
Meistens sprechen wir, manchmal schauen wir einen Film. Während des letzten
langen Krieges 2014 haben wir gesungen. Wir haben eine kleine Tasche, in der
wir alle wichtigen Dokumente haben, Ausweise und Zeugnisse. Die ist immer
gepackt. Ich denke, so etwas hat jede Familie in Gaza.

Meine Söhne sind bald erwachsen, sie wissen, was zu tun ist,
falls etwas passiert. Einer soll die Tasche mit den Dokumenten nehmen. Ich nehme die Tochter, so etwas klären wir vorher. Aber meine Tochter ist erst zehn. Es ist nicht leicht,
einem Kind zu erklären, warum wir so leben. Sie will unbedingt reisen. Ich muss
ihr also erklären, warum das nicht geht. Aber ein Kind lässt sich nicht so
einfach zufriedenstellen mit der Antwort, dass Gaza unter Blockade ist. Sie
fragt dann, warum, und dann wieder, warum, und für mich als Vater wird es
kompliziert. Ich kann es ja auch nicht ändern.

Wir leben unter doppelter Besatzung, von Israel und von der Hamas.

Omar A.

Die Lage hier ist sehr schlimm. Ich wünsche mir, dass
diese Botschaft nach draußen dringt. Wir leben unter doppelter Besatzung, von
Israel und von der Hamas. Israel begeht ein Verbrechen, weil es Gaza von der
Außenwelt abschneidet. Und die Hamas will um jeden Preis an der Macht bleiben.

Ja,
die israelische Besatzung ist der Hauptgrund für unsere schlimme Lage, da hat
die Hamas recht. Aber den Leuten hier ist es inzwischen egal, wer recht hat. Sie
können nicht mehr. Deshalb gab es in diesem Monat auch die Proteste mit dem
Slogan “Wir wollen leben”. Die haben der Hamas solche Angst eingejagt, dass sie sie
mit Gewalt unterdrückt haben. Sie haben einen Bekannten von mir krankenhausreif
geschlagen!

Die Atmosphäre ist jetzt eine andere: Ich traue mich nicht mehr,
etwas Kritisches auf Facebook zu posten. Genauso wenig, wie du hier vor den
Bomben fliehen kannst, kannst du vor der Hamas weglaufen.

Wir versuchen jetzt einfach, den Kopf über Wasser zu halten.
Ich hoffe nur, dass es keinen neuen Krieg gibt. Ich würde meinen Kindern gerne
sagen, dass sie Gaza einmal besser machen werden. Aber unter diesen Bedingungen
muss ich mir doch für sie wünschen, dass sie einmal von hier weggehen können.  

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Matthias Schmale, 56, Direktor des UN-Hilfswerks UNRWA im Gazastreifen:

Ich habe in vielen Krisengebieten gearbeitet, zum Beispiel in
Somalia. Aber meine Erfahrungen hier in Gaza sind besonders. Als ich vor
eineinhalb Jahren ankam, da wirkte das Stadtbild auf mich erst einmal recht
normal. Ärmlich, aber alltäglich. Bei den ersten Begegnungen war ich beeindruckt
von dem Unternehmergeist der Menschen hier, die trotz der widrigen Umstände mit
viel Energie weitermachen. Dann erlebte ich die ersten Bombardements.

Für einen UN-Mitarbeiter wie mich ist es eine
widersprüchliche Situation. Ich weiß, dass ich keine Zielscheibe bin. Die
israelische Armee hat unsere Koordinaten, und ich kann mir sehr sicher sein,
dass ich in meinem Haus nicht in Lebensgefahr bin. Aber wie es den Menschen in
Gaza damit geht, das erlebe ich natürlich unmittelbar.

Gaza könnte das Singapur des Nahen Ostens sein.

Matthias Schmale

In einer Nacht wie der
am Montag, wenn Bomben fallen, hört man von überall Kinder schreien. Ich hatte
den Eindruck, da kamen Erinnerungen an den Krieg von 2014 wieder hoch. Eine norwegische
Hilfsorganisation hat kürzlich einen Bericht dazu veröffentlicht, wie sich die
Unsicherheit und Perspektivlosigkeit auf die Psyche von Kindern auswirken. Zwei
Drittel der Kinder, die in der Nähe der Grenze leben, haben psychische
Probleme. Mehr als die Hälfte sagen, sie haben keine Hoffnung auf eine bessere
Zukunft.

Ich bin hier für ein riesiges humanitäres Hilfsprogramm verantwortlich,
und leider muss ich sagen, dass sich die Lage zuletzt sehr verschlechtert hat.
Mehr als eine Million Menschen, also mehr als die Hälfte der Bewohner Gazas,
brauchen Lebensmittelpakete. Inzwischen suchen Menschen nachts im Müll nach
Essen. Und seit es die Proteste gibt, sind immer mehr Menschen mit Amputationen
im Straßenbild zu sehen, das ist schon deutlich. Denn bei den Demonstrationen am Zaun wurden nicht nur Menschen getötet, sondern sehr viel mehr verletzt, vor allem durch Schüsse in die Beine.

Was mich frustriert, mir aber auch Hoffnung gibt: Wir
haben es hier mit einer politischen Krise mit humanitären Konsequenzen zu tun,
nicht mit einer Naturkatastrophe. Das macht es uns schwer, denn die Krise
dauert schon lange und die Ermüdung der Geldgeber ist deutlich zu spüren.

Aber
es heißt auch: Dieses Desaster muss nicht sein, und es muss nicht im totalen
Kollaps enden! Wenn man mich fragt, dann könnte Gaza das Singapur des Nahen
Ostens sein. Jedenfalls erlebe ich die Menschen als so motiviert. 

*Namen geändert

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