/Ein zufriedenes Leben

Ein zufriedenes Leben

Der Tag vor seinem 15. Geburtstag war der letzte Tag, an dem Stefan Fabricius mit seinen Beinen laufen konnte. Ein warmer Sommertag. Er wollte Spaß haben. Mit seinem Bruder und einem Kumpel fuhr er in ein Freibad am Rangsdorfer See. „Meine Mutter hatte uns verboten, an eine wilde Badestelle am nächsten Baggersee zu fahren. Könnte zu viel passieren, meinte sie.“ Der Rangsdorfer See war weiter weg. Als sie endlich ankamen, konnte Stefan es kaum erwarten. Er rannte auf den Steg, der weit in den See hineinführte, und sprang kopfüber hinein. Zu steil. Fast senkrecht knallte er mit dem Kopf auf den Grund – und war augenblicklich gelähmt. „Ein Gefühl, als schlägt Dir jemand mit dem Hammer vor den Schädel, wie ein Stromschlag“, erinnert er sich. Aber Schmerzen habe er nicht gespürt. Denn er kämpfte um sein Leben – und war dabei völlig still. Bewegungsunfähig trieb er auf der Wasseroberfläche, mit dem Gesicht nach unten. Drehen, das ging nicht mehr. Seine Muskeln reagierten nicht auf den verzweifelten Befehl des Gehirns. An diesem Tag im Sommer 1985, einen Tag vor seinem 15. Geburtstag, wäre das Leben von Stefan Fabricius fast schon vorbei gewesen, hätte ihn sein ein Jahr jüngerer Bruder nicht rechtzeitig ans Ufer gezogen.
Sein bisheriges Leben aber war tatsächlich vorbei. Denn im Krankenhaus war die Diagnose klar: Querschnittlähmung. Die Wucht des Aufpralls hatte die Halswirbelsäule gebrochen, das Rückenmark vom Gehirn abgeschnitten und damit die Fähigkeit, die Beine zu steuern. Ebenso Arme, Rückenmuskulatur, Blasenkontrolle, bewusste Stuhlentleerung, Empfindungsfähigkeit unterhalb der Brust oder Sexualfunktion. Alles war unerreichbar für das Gehirn. Wenn Arme und Beine von der Querschnittlähmung betroffen sind, sprechen Ärzte von der Tetraplegie. Ist die Wirbelsäule weiter unten gebrochen und sind deswegen „nur“ die Beine gelähmt, nennen sie das Paraplegie.
Der 14-Jährige war also von nun an Tetraplegiker, doch das sagte ihm damals alles nichts. Er wartete. Erst drei Tage später steckte eine Oberärztin kurz den Kopf durch die Tür seines Zimmers und sprach mal eben die brutale Wahrheit aus: Sie werden nie wieder laufen können. „Erst da habe ich das erste Mal nach dem Unfall richtig geweint“, erzählt Fabricius 20 Jahre später, als wir ihn zum ersten Mal treffen. Ein Kurzfilm war der Anlass, den das Unfallkrankenhaus Berlin gerade in die Kinos gebracht hatte, um Jugendliche vor den Folgen zu warnen, wenn sie kopfüber in unbekannte Gewässer springen. Badeunfälle sind oft Ursache einer Querschnittlähmung bei sehr jungen Menschen, Unfälle generell der häufigste Grund für diese Lähmung. Jeder siebte Patient verliert die Kontrolle über Teile seines Körpers durch einen Wirbelbruch.

Er hat früh Frieden damit gemacht

Stefan Fabricius hat schon früh Frieden mit seinem neuen Leben gemacht. Die ersten Jahre nach dem Unfall bekam er noch ab und zu Panik, wenn ihm Wasser über das Gesicht lief, selbst beim Duschen. Aber das war schnell vorbei. Selbstmordgedanken? Für ihn nie ein Thema. Er grinste breit, als wir uns zu ihm setzten, damals 2005 im Unfallkrankenhaus. Über den fast kahlrasierten Schädel des 35-Jährigen zog sich ein Irokesenschnitt. „Den Zopf haben mir die Schwestern geflochten, aber den Kopf rasieren, das kann ich allein.“ Warum das trotz Lähmung ging, dazu später mehr. Sehnig und dünn saß er in seinem Rollstuhl. Er wirkte ein wenig zappelig, zeigte, wie gut er sich bewegen kann. Doch es gab Grenzen. Hätte er sich zu weit nach vorn gebeugt oder hätte er keine Seitenlehnen am Rollstuhl, er wäre einfach umgefallen.
Im Spätsommer 2018 sind wir erneut mit ihm verabredet. Wir wollen wissen, wie es ihm seither ergangen ist. Die optimistische Grundausstrahlung hat er auch nach 13 Jahren nicht verloren. Nur etwas ruhiger ist der nun 48-Jährige. Entspannt sitzt er im Rollstuhl. Statt des Irokesenschnitts trägt er jetzt lange Haare, in die sich graue Strähnen geschlichen haben. Die roten Streifen schmücken nun seine Hose. Seit 33 Jahren lebt Stefan Fabricius mit den Folgen seines unglücklichen Sprungs, gelähmt von den Schultern abwärts. Seitdem hat sich scheinbar wenig getan. Er sitzt immer noch im Rollstuhl, spürt von den Schultern abwärts seinen Körper nicht, muss immer noch aufpassen, dass er nicht vornüberkippt, ist immer noch auf Hilfe angewiesen. Doch eigentlich hat sich seitdem auch so vieles getan, haben sich die kleinen Erfolge zu großen Erleichterungen summiert.
Treibende Kraft dahinter ist Andreas Niedeggen, Chefarzt des Zentrums für Rückenmarkverletzungen am Unfallkrankenhaus Berlin. Seit 1998 ist er der behandelnde Arzt von Stefan Fabricius. Und vieler anderer Querschnittgelähmter in der Region. Denn deren medizinische Versorgung ist hier an seinem Zentrum in Marzahn gebündelt. Bei einer Querschnittlähmung gehen Behandler und Betroffener quasi eine lebenslange Beziehung ein. „Alle ein oder zwei Jahre sollte der Patient in unserer Ambulanz vorbeikommen“, sagt Niedeggen. „Dann machen wir einen Checkup, um Probleme früh zu erkennen, die den niedergelassenen Kollegen vielleicht nicht auffallen.“ Kündigen sich größere Schwierigkeiten an, werden die Patienten auch stationär aufgenommen, um komplexere Untersuchungen wie Darmspiegelung machen zu können.

Dass Ältere immer aktiver sein wollen, hat einen Preis

Die Zahl der Querschnittgelähmten, die im Zentrum für Rückenmarkverletzte therapiert werden, sei seit Jahren gleich, sagt Niedeggen. Rund 500 sind es. Jedes Jahr kommen um die 70 hinzu. Aber die Betroffenen ändern sich: „Wir müssen immer mehr ältere Patienten aufnehmen.“ Das ist offenbar der Preis, wenn die Generation 60 plus immer aktiver sein will. Da kraxeln 65-Jährige durch die Berge, 70-Jährige brettern mit dem Fahrrad um enge Kurven, 80-Jährige steigen auf Leitern, um den Apfelbaum zu schneiden, den sie immer geschnitten haben. „Ältere Menschen wollen heute weniger einsehen, dass ihre Fähigkeiten beschränkter sind als mit 30. Die Risikobereitschaft wird größer.“ Aber es gibt auch immer noch die „Klassiker“, wie eben Badeunfälle junger Leute. 2018 habe man schon drei „frisch“ Querschnittgelähmte aufgenommen, deren Rückenwirbel durch einen Sprung ins Wasser gebrochen sind.
Für sie alle kümmern sich Niedeggen und sein Team um die kleinen und größeren Verbesserungen der Lebensqualität, die durch Operationen und andere Therapien erreichbar sind. So wie für Stefan Fabricius. Und der weiß diese Verbesserungen zu schätzen, anders als die „frisch“ Querschnittgelähmten, mit denen Niedeggen über die Folgen ihres Unfalls spricht, kurz nachdem ihr Leben aus der Bahn geworfen wurde. „Bei solch einem Erstgespräch geht es nicht um kleine Erfolge, sondern immer nur um eine Frage: Werde ich wieder laufen können? Und das muss ich verneinen, heute wie vor 20 Jahren.“ In einer Zeit, in der man das Gefühl hat, ständig medizinischen Durchbrüchen beizuwohnen, ein überraschender Befund. „Den großen Durchbruch bei der Behandlung von Querschnittgelähmten gab es nicht“, sagt Niedeggen. Zwar wird daran geforscht, die durchtrennten und vernarbten Rückenmarksnerven wieder zusammenwachsen zu lassen oder mit elektrischer Stimulation Nervenimpulse hindurchzuschleusen. Doch bisher stecke das alles noch in der Grundlagenforschung. Wann wird sich das ändern, wann ist Heilung in Sicht? „In 20 bis 50 Jahren vielleicht. Es ist enorm schwierig.“ Vor 40 Jahren, als der heute 64-jährige Medizin studierte, lautete die Lehrmeinung noch, dass sich das Rückenmark nicht regeneriere. „Inzwischen wissen wir, dass es sich regenerieren kann.“ Man müsse also in großen Dimensionen denken. „Ziel einer neuen Studie ist es, Betroffenen die Sensibilität zurückzubringen, dass sie am Po spüren können, ob sie falsch sitzen und so die Sitzposition ändern. Es wird dann weniger Druckgeschwüre geben.“ Ein Arzt, der Querschnittgelähmte behandelt, muss sich an kleinen Erfolgen erfreuen. Sie sind der Job von Andreas Niedeggen. Es gehe vor allem um „Neuverkabelung“ der Sehnen und Muskeln, um dem Patienten motorische Fähigkeiten zurückzugeben. Danach muss er dabei kräftig mittun und so lange immer wieder das gleiche trainieren, bis Gehirn und der Muskel begriffen haben, dass etwa beim Gedanken „Zugreifen“ andere Muskeln angesteuert werden müssen als vorher.

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