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Gelbwesten-Proteste : Wie eine Haustür ohne Schlüsselcode

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C’est la guerre“, murmelt
eine Frau und zieht ihre kleine Tochter an den Polizisten vorbei, die in einer
langen Reihe, ausgestattet mit Gummigeschossen und Schutzschilden, den
Boulevard de Rochechouart absichern gegen die in gelben Westen vorbeiziehenden
Demonstranten. Paris ist ein Fest fürs Leben, das hat schon Hemingway gewusst,
nur ist nicht jedes Fest eine Freude und wenn doch, so folgen Kollateralschäden
gern unmittelbar, die von Kopfschmerzen bis hin zu zerstörten Wohnzimmern
reichen können. Diese Wohnzimmer liegen derzeit vor allem in traditionsreichen
Brassieren an den Champs-Élysées, und die Kopfschmerzen erwischen gern auch jene,
die gar nicht mitgefeiert haben, ob sie nun Emmanuel Macron oder Édouard Philippe heißen. Nach den gewalttätigen Ausschreitungen während der
Gilets-jaunes-Demo am 16. März haben sie nun, eine Woche später,
nicht nur die Champs-Élysées für den Demonstrationszug sperren lassen, sondern
sogar die militärische Antiterroreinheit Sentinelle ins Krisengebiet
des Pariser Luxusarrondissements Nummer acht geschickt, um die französische
Bourgeosie gegen die Gelbwesten zu schützen.

Hier im neunten Arrondissement
wirkt im Moment alles ruhig, nur an einer Straßenecke bricht Hektik in einer
Menschenmenge aus. Als ich mich nähere, sehe ich die gewaltigen Grabbeltruhen,
vollgestopft mit Unterhemden und T-Shirts für einen Euro, die zum Teil wie
zerfleddertes Aas über die Straße verstreut sind. In der pittoresken
Haussmannschen Straße, in der die Studios vermutlich um die 10.000 Euro pro Quadratmeter
kosten, ist der Bedarf nach billigen Textilien groß. Über uns summt monoton
ein Hubschrauber. Das ist Paris an einem Samstag.

Nicht nur in der Liebe gilt, dass
gerade das begehrenswert erscheint, was sich rar und teuer macht. Am Donnerstag
war der Eiffelturm gar im Vollmond zu sehen, und schon meint man wieder zu
wissen, wofür man die exorbitante Miete zahlt, die finanziell diverse Genicke bricht,
warum man sich um 18 Uhr in eine überfüllte Metro quetscht, und auch, dass die
Aussicht auf den Eiffelturm von Touristenmassen eingeschränkt ist und man auf
dem kurzen Weg von der Metrostation zum Jardin du Trocadéro wider Willen drei
Schlüsselanhänger und einen Selfiestick erworben hat: egal. Eiffelturm.
Mondschein. Glück. Die Ausflugsfähren heißen Brigitte Bardot und Edith Piaf,
die lädierten Champs-Élysées sind vom Jardin du Trocadéro aus nicht zu sehen.

Neben Eiffelturm, Notre Dame und
Sacré Coeur sind vor allem die vorbeifahrenden Polizeikarawanen als
Selfiemotiv derzeit sehr beliebt oder die Polizistenreihen, die in ihrer
Montur an eine moderne Version jener Römer denken lassen, die Obelix einst mit
großem Vergnügen zusammengeschlagen hat. Auch das Kleinstgewerbe hat sich
bereits auf den neuen Samstagstourismus eingestellt: Auf den Treppen vor Sacré Coeur verkauft ein Straßenhändler gekühltes Bier an die Demonstranten, und die
Handysticks kommen hier vor allem zum Einsatz, um als Ein-Personen-Team
Berichte über die Demo in die eigene Smartphonekamera zu sprechen.

Während die Demonstranten zu Eye
of the Tiger
ihre Fahnen und Plakate schwenken, wird mittels Algorithmen
die Grand débat, die landesweite Demokratiedebatte,
ausgewertet, die Macron angestoßen hatte. Die Algorithmen könnten vermutlich
nicht immer jeden Flüchtigkeitsfehler richtig einordnen, bemerkte vor zwei
Tagen Le Monde in einer Polemik, Fragen nach Finanzierung, financé, würden dadurch schnell zu einem Rosenkrieg mit dem fiancé, dem Verlobten.
Macrons Doppelstrategie gegen die Staatskrise jedenfalls, die Melange aus Armee und Grand débat, aus
Grande-Nation-Autoritarismus und deliberativer Demokratie, stößt nicht bei allen
auf Begeisterung, den Linken ist es zu rechts, den Rechten zu links.

Es ist nicht das erste Mal, dass
für innenpolitische Unruhen in Frankreich das Militär eingesetzt wird, 1992
etwa schickte der einstige Premierminister Pierre Bérégovoy Armeeeinheiten
gegen einige Lkw-Fahrer ins Feld oder vielmehr auf die Autobahnen, wo die Lkw
von ihren Fahrern einfach stehen gelassen wurden, um gegen die Einführung der permis
à point
zu protestieren. Und doch sind die Bilder einfach zu groß, zu
aggressiv: auf der einen Seite jene Demonstranten, die immer wieder mit Revolutionsikonografie
spielen
, dabei allerdings die Historie recht frei auslegen, auf der anderen die
Gendarmerie und Polizeibeamten am Rand der Gelbwestendemo in ihren
schusssicheren Uniformen, die Asterix und Obelix endlich in die Knie zwingen
wollen. Und Macron als Gaius Julius? Kann das gut gehen?

Die entscheidende Frage ist
vielleicht eher, was man unter gut versteht. In Bezug auf Macron können das
schon mal ziemlich unterschiedliche Ansichten sein, je nachdem, ob man mit
Deutschen oder Franzosen spricht. In Deutschland, wo die großen
arbeitsmarktpolitischen Reformen länger zurückliegen, dafür Polen und Ungarn
mit ihren europafeindlichen, nationalistischen Regierungen näher, erfreuen sich Macrons emphatische Pro-Europa-Reden einiger Beliebtheit. Bei den meisten meiner Pariser Bekannten, aber auch in der Presse hier
verfängt seine Rhetorik weit weniger, man schimpft eher auf den Rückbau des Sozialstaats unter diesem
Präsidenten und auf eine Gesellschaft, die so wenig durchlässig ist
wie eine Pariser Haustür ohne den richtigen Code.

Eine politische Mitte wie jene um
Macron, die sich weder rechts noch links meint, die aber vor allem im eigenen
Land unbeliebt ist; dazu nicht endende Straßenproteste; eine antielitäre, antikosmopolitische Wut, die leicht in alte antisemitische
Stereotype kippt, obwohl es doch eigentlich die Hauptstadtmieten sind, gegen die man
angeht, gegen die Undurchlässigkeit der gesellschaftlichen Klassen, nicht zuletzt
auch den Ausverkauf der Lebensrealität durch einst sich nahbar gebende Konzerne
wie Airbnb. Das, was in Paris derzeit zu beobachten ist, ist wohl eine
europäische Krise in französischer Synchronisationsfassung. Für die Untertitel braucht
es aber mehr als gute Grammatik, nämlich auch einen unverkitschten Blick auf
die Geschichte und eine Idee für die Zukunft, die konstruktiver ist, als nur
gegen die Gegenwart zu sein.

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