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EU-Austritt: Mays Pragmatismus ist gescheitert

Es ist der 29. März 2019. Aber der Brexit, der Großbritannien in eine bessere Zukunft führen sollte, findet nicht statt. Stattdessen hat das Parlament den Vertrag für einen geordneten Austritt aus der Europäischen Union ein drittes Mal abgelehnt, wieder mit großer Mehrheit.

Großbritannien befindet sich in einer schlimmen Lage: Parlament und Regierung arbeiten nur noch gegeneinander. Wenn sie sich nicht in wenigen Tagen einigen, droht dem Land ein gravierendes wirtschaftliches und politisches Chaos, das künftigen Generationen noch viel Leid zumuten dürfte.

Das Land lebt seit Wochen von einer Frist zur nächsten, in Abhängigkeit von der EU, ohne klaren Ausweg. Die Bevölkerung weiß nicht mehr, wer Großbritannien regiert, geschweige denn wohin die Politik führt. Kein Brite, der nicht schockiert ist: “Ich erkenne mein eigenes Land nicht wieder”, “Hätten wir das doch nie angefangen”, “Warum einigen sich die Politiker nicht?”. Die Verunsicherung ist groß. Großbritannien ist durch den Brexit nicht stark geworden. Es ist in einem traurigen Zustand.

Die Debatte und Abstimmung am heutigen Freitag haben es noch einmal deutlich gemacht: Die britische Demokratie schafft es nicht, in wenigen Jahren, ohne jede Vorbereitung und Planung die Bande zur EU zu kappen. 40 Jahre nachbarschaftliche, politische und wirtschaftliche Verflechtung lassen sich nicht so einfach entwirren.

May hat jeden Rückhalt verloren

Andere Regierungen debattieren vor verfassungsrechtlich gravierenden Entscheidungen oder Volksabstimmungen. In Großbritannien gab es die Überlegungen zum Wie erst nach der Volksabstimmung. Und selbst nach zwei Jahren sind Regierung, Kabinett, Parlament und Bevölkerung sich nicht einig über den Weg. Die Kluft zwischen Brexit-Verfechtern und EU-Anhängern blockiert jede Einigung.

Auf Twitter heißt es sarkastisch, das Einzige, was in der britischen Demokratie derzeit noch funktioniere, sei die Queen. Aber sie kann sich politisch nicht äußern, auch wenn sich im Land derzeit die größte “Verfassungskrise” seit 300 Jahren abspielt.

So geht es weiter mit dem Brexit

Flussdiagramm mit den möglichen Ausgängen der Brexit-Verhandlungen


©  ZEIT ONLINE

Premierministerin Theresa May regiert noch, aber allein, einsam, ohne Rückhalt im Kabinett, mit offener Feindschaft im Parlament. Am Freitag hat sie das letzte Mal versucht, ihr Versprechen gegenüber dem Volk einzuhalten: “Brexit ist Brexit” – doch der 29. März verstreicht ohne eine Lösung.

Das ist nicht nur Mays Schuld, aber auch: Sie hat die Regierung nicht im nationalen Interesse geführt, sondern ausschließlich mit Blick auf die Beliebtheit der Partei bei konservativen Wählerinnen und Brexit-Anhängern. Sie hat nicht mit Konsens, Diplomatie und Überzeugung regiert, sondern mit sturem Pragmatismus. Sie hat den Willen des Parlaments systematisch ignoriert und die Abgeordneten durch Winkelzüge und indirekte Drohungen in die Ecke gedrängt. Die Macht des Amtes kam ihr dabei gelegen: Dank der Parlamentshoheit der Regierung konnte sie zwei Jahre lang die Debatten und Abstimmungen steuern und die auf Parteidisziplin eingeschworenen Abgeordneten ausmanövrieren. Es ist erschreckend, wie unfähig das Parlament war, der Politik von May, die immer mehr auf einen No Deal steuerte, etwas entgegenzusetzen.

Noch eine letzte Chance

Abgeordnete sind in Großbritannien harter Parteidisziplin unterworfen und müssen, wenn sie beim Thema Brexit ausscheren, vernichtende Kritik, wenn nicht Morddrohungen und ein Ende ihrer Karriere fürchten. Das System spornt nicht gerade dazu an, nach eigenem Wissen und Gewissen abzustimmen.

Ein weiteres Problem ist das einfache Mehrheitswahlrecht, was die beiden großen britischen Volksparteien begünstigt. Die britische Politik hat daher wenig Erfahrung mit Koalitionen und der Notwendigkeit zum überparteilichen Kompromiss.

Das Königreich hat jetzt eine letzte Chance. Das Parlament muss die Initiative ergreifen und sich bei der nächsten Sitzung am Montag zu einer Lösung durchringen. Die Abgeordneten müssen sich einigen – vielleicht auf einen weichen Brexit, vielleicht verbunden mit einer Volksabstimmung. Dann muss May bei der EU um eine Fristverlängerung bitten, selbst wenn dies die Beteiligung von Großbritannien an den Europawahlen bedeutet. Sonst taumelt das Land am 12. April in den No Deal.

Vielleicht es noch etwas zu retten. Vielleicht kommt Großbritannien mit Blessuren davon. Irgendwann aber wird es, wie  nach dem Irak-Krieg, eine Untersuchung geben müssen. Darüber, wie es aufgrund falscher Behauptungen der Regierung über die Einfachheit des Brexits zu diesem Chaos und politischen Versagen kommen konnte.  Dieser 29. März 2019 ist ein trauriger Tiefpunkt einer einst großen Demokratie.

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