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Agnès Varda: Die Vogelfreie

“Frei, verrückt und unschuldig”, so beschrieb Agnès Varda
den Beginn ihrer Karriere. Jean-Luc Godard und François Truffaut schrieben 1954
noch filmkritische Pamphlete gegen das alte und für ein neues französisches
Kino, da traute sich die 26-jährige Kunsthistorikerin und Theaterfotografin
bereits den ersten Spielfilm zu. Selbst produziert, mithilfe einer kleinen
Erbschaft. Voll Vertrauen in ihr Talent nahm Varda vorweg, was die Nouvelle Vague erst später zur einflussreichsten künstlerischen Bewegung der
Nachkriegszeit machen sollte.

Agnès Varda war die einzige Frau, die sich im losen Kreis
der Pariser Nouvelle-Vague-Dandys als Regisseurin durchsetzte. Bis ins hohe
Alter war sie kreativ, trotzte sie mit ihrer kleinen Produktionsfirma
Ciné-Tamaris den oft widrigen Umständen
rund 50 Spiel- und Dokumentarfilme ab, darunter sinistre
Liebesgeschichten, Filme aus dem Blickwinkel eigenwilliger Frauen,
Länderporträts und Liebeserklärungen an Paris.

Ihr Debüt La Pointe
Courte
entstand nach einem eigenen Drehbuch in dem gleichnamigen Dorf bei
Sète an der Côte d’Azur, wo Agnès Varda während des Krieges aufgewachsen war.
Silvia Monfort und Philippe Noiret vom Pariser Théâtre National Populaire
spielten ein Paar, das in den Heimatort des Mannes zurückkehrt und inmitten
des archaischen Alltags der Fischer um die Zukunft ihrer Liebe kämpft. Pariser
Hochkultur und authentisches Mittelmeerleben, Profischauspieler und Laien,
abstrakte Liebesdiskurse und raue authentische Arbeitsszenen, neorealistisch
dokumentierte Wirklichkeit und die Reflexion artifizieller Codes fügten sich zu
einer mehrstimmigen Komposition. Cinécriture nannte sie später ihren Stil der
assoziativen Sprünge und Brüche, mit dem sie die Komplexität der Moderne zu
fassen versuchte.

Geboren 1928 in Belgien als Tochter eines Griechen und einer
Französin, lebte Agnès Varda in Brüssel, bis der Vater die Familie zu Beginn
der deutschen Besetzung 1940 auf einem Hausboot in Sète unterbrachte. Paris wurde
zu Agnès Vardas Lebensmittelpunkt, als sie ihr Kunststudium am Musée du Louvre aufnahm.
Nach ihrem ersten erfolgreichen Film Cléo
von fünf bis sieben
(1961) bezog sie ein altes Hinterhofareal in der nach
dem Fotografiepionier benannten Rue Daguerre. Es wurde ihr
Schnittatelier, Filmbüro und Rückzugsort, den sie nicht ohne Stolz in ihrem
Alterswerk präsentierte.

Hier lebte sie mit ihrem Mann Jacques Demy und den Kindern
Rosalie Varda und Mathieu Demy, die als Szenenbildnerin und als Schauspieler an
Filmen ihrer Mutter mitwirkten. In Daguerreotypes
(1975) setzte sie den Händlern und Handwerkern ihrer Straße ein liebevolles
Denkmal. Von hier aus bot sie alle Kraft auf, um ihre Filme und die von Demy zu
sammeln und in emphatischen Filmessays lebendig zu halten. Außergewöhnlich
waren auch ihre Hommagen und Filmporträts. In Die Welt ist ein Chanson – Das Universum des Jacques Demy (1995) und
zuvor in Jane B. par Agnes V. (1987) über die Schauspielerin Jane Birkin
reflektierte sie die
geheimen Beziehungen zwischen Kunst und Leben.

Agnès Varda setzte den Ikonen der Nouvelle Vague welthaltige
Rätselfrauen entgegen. Cléo von fünf bis
sieben
begleitet in Realzeit eine junge Sängerin, die bei Studioproben und
in Begegnungen mit einer Freundin und einem Fremden durch Paris driftet,
lebenshungrig dem Augenblick hingegeben und voller Angst vor dem bedrohlichen
Ergebnis eines Krebstests. In Vogelfrei
(1985) nähert sie sich in einer fiktiven Recherche den letzten Kapiteln im
Leben der verschlossenen Streunerin Mona (Sandrine Bonnaire), die an Côte d’Azur, auf der winterlich frostigen Kehrseite der Traumregion, ihr Leben
verliert. Für Vogelfrei erhielt Varda
als erste Regisseurin den Goldenen Löwen in Venedig.

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