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Britische Abgeordnete: Die Regierung muss sich nicht wundern

“Das ist eine Verfassungsrevolution, die dieses Haus noch bereuen wird.” Diese Worte wählte der konservative Abgeordnete Bill Cash, ein altgedienter EU-Skeptiker. Der Grund für seinen Ausbruch: Das Parlament hatte entschieden, der Regierung die Kontrolle über die Tagesordnung im Unterhaus zu entreißen. Dies erlaubt es ihnen, am Mittwochnachmittag über eine Reihe von Brexit-Optionen abzustimmen, sogenannte indicative votes – darunter etwa ein Verbleib im Binnenmarkt oder in der Zollunion, oder ein zweites Referendum. Nun ist bekannt, dass sich die konservativen Brexit-Anhänger gern in Rage reden, wenn sie den harten EU-Austritt gefährdet sehen. Aber der Entscheid vom Montag markiert tatsächlich einen ungewöhnlichen Moment im britischen Politbetrieb.

Im Gegensatz zu den meisten europäischen Staaten bestimmt in Großbritannien die Regierung praktisch allein, was im Parlament debattiert wird und welche Gesetze zur Abstimmung vorgelegt werden. Diese Konvention hat ihren Ursprung im späten 19. Jahrhundert: Damals wurde in Westminster hitzig über die Selbstverwaltung Irlands debattiert und die Befürworter vermochten den parlamentarischen Fahrplan der Regierung zu stören. Daraufhin setzte Premierminister William Gladstone durch, dass die Regierung die Tagesordnung bestimmt.

Über Jahrzehnte war dies eine Regelung, die sowohl die Labour-Partei als auch die Tories überaus schätzten, sagt Jack Simson Caird vom British Institute of International and Comparative Law in London: “Sie half ihnen dabei, ihr jeweiliges Wahlprogramm umzusetzen, wenn sie an die Macht kamen – sei es die radikal sozialdemokratische Politik der Attlee-Regierung (1945–51) oder die radikale Tory-Politik Margaret Thatchers (1979–90). Es gab ihnen eine außergewöhnliche Kontrolle über den legislativen Prozess.

Das Problem: May kann keine Mehrheiten organisieren

“Ein Grund, weshalb diese Konvention kaum Kontroversen auslöste, liegt darin, dass es in den vergangenen Jahrzehnten in Großbritannien selten Minderheitsregierungen gegeben hat – das Mehrheitswahlrecht sorgte dafür, dass stets entweder Labour oder die Konservativen gewannen, oftmals mit deutlichem Vorsprung. Eine Mehrheit von 100 Abgeordneten im Unterhaus, wie sie etwa Tony Blair zeitweise hatte, gibt der Regierung automatisch die Kontrolle über die Vorgänge im Parlament. Die traditionelle Macht der Exekutive beruht also auf einer dominanten Mehrheit im Parlament und der Parteidisziplin, schreibt die Verfassungsexpertin Meg Russell.

Der Brexit und die damit verbundenen Turbulenzen der vergangenen Jahren haben jedoch eine ganz andere Situation geschaffen: Nicht nur führt Theresa May seit 2017 eine Minderheitsregierung an und ist von den Stimmen der nordirischen DUP abhängig – beide großen Parteien sind auch hoffnungslos zerstritten in Bezug auf die Brexit-Strategie. So präsentiert sich das Unterhaus zersplittert, auf beiden Seiten des Hauses ist die Parteidisziplin dahin.

Theresa May hat sich jedoch geweigert, dieser Tatsache ins Auge zu blicken, sagt Professor Robert Hazell von der Constitution Unit des University College London: “Um mit einer Minderheitsregierung effektiv regieren zu können, muss man über die Parteigrenzen hinweg Unterstützung suchen – und zwar für jedes legislative Projekt.” Aber die Premierministerin hat so regiert, als stünde sie einer Mehrheitsregierung vor: Sie hat überhaupt keine Brücken geschlagen oder es auch nur versucht. Stattdessen hat sie sich einzig nach den Wünschen des rechten Rands ihrer Partei gerichtet und dementsprechend rote Linien gezogen.

Der Souverän ist trotzdem das Parlament

Dass das Parlament jetzt seine Stimme geltend macht, ist eine direkte Konsequenz dieser Versäumnisse. Wenn sich die Brexit-Anhänger über einen angeblich gefährlichen konstitutionellen Präzedenzfall empören, vergessen sie, dass der Souverän in Großbritannien das Parlament ist – das ist das zentrale Prinzip der ungeschriebenen britischen Verfassung. Das Unterhaus hat jederzeit die Möglichkeit, die Regierung zu entfernen, indem es ihr das Misstrauen ausspricht. Die Andeutungen von Kabinettsmitgliedern, dass sie die Probeabstimmungen vom Mittwoch schlichtweg ignorieren könnten, vertragen sich schwer mit der parlamentarischen Souveränität.

“Wenn es eine klare Mehrheit für einen bestimmten Vorschlag gibt, dann wäre es in verfassungsrechtlicher Hinsicht schlichtweg verrückt, wenn die Regierung dieses Votum ignorieren würde”, sagt Jack Simson Caird. “Ich glaube nicht, dass sie das tun könnte.” Eine Gefahr sieht er vielmehr darin, dass manche Abgeordnete die Probeabstimmungen sabotieren könnten. Damit der Prozess die nötige Legitimität hat, ist die Teilnahme des gesamten Unterhauses nötig: “Wenn man die Präferenzen des Unterhauses herausfinden will und eine Gruppe von Abgeordneten oder die Regierungsminister verweigern sich dem Prozess und halten sich den Abstimmungen fern, dann hat man ein Problem.”

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