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Mainstream: Hauptsache, dabei

Ich bin möglicherweise befangen, das gleich vorneweg. Schließlich bin ich
Journalistin und, wenn ich die vielen kritischen Freunde meiner Branche richtig verstehe,
damit automatisch Vertreterin eines Mainstream-Mediums. Ich kann dem immer schlecht
widersprechen oder zustimmen, denn mein Problem ist: Ich habe noch nicht ganz verstanden, was
das genau über mich aussagen soll.

Als Mainstream wird heute irgendwie alles und jeder bezeichnet – während keiner dem
Mainstream angehören will. Das Wort lässt sich wie ein Etikett allem anheften, was einem im
weitesten Sinne nicht passt.

Greta Thunberg zum Beispiel, die Klima-Aktivistin, die erschien mir erst mal ganz in Ordnung.
Aber von wegen! Mainstream, übelste Sorte! “Ein Mädchen, 16 Jahre”, heißt es über sie auf
Twitter, “missbraucht und indoktriniert für eine fragwürdige politische Agenda. Und der
#Mainstream jubelt.” Angela Merkels Lob für sie zeige nur wieder, wie sehr die Kanzlerin auf
den Spuren eines “medialen Mainstreams” unterwegs sei, schrieb ein Polizeigewerkschafter. Für
einen rechten Blogger ist Greta gar die “Marionette eines linken Mainstreams”.

Überhaupt muss dieser linke Mainstream ein ziemliches Arschloch sein: hält sich für moralisch
überlegen und macht alle anderen Meinungen platt.

Glaubt man allerdings den Linken, hat uns auch ein “neoliberaler Mainstream” im Griff (Martin Schulz), und “der Mainstream tickt rechtskonservativ” (Susanne Hennig-Wellsow,
Linkspartei).

Das Ganze ist so widersprüchlich, da war ich fast dankbar, als vor ein paar Wochen der
ehemalige Handballprofi Stefan Kretzschmar auf
t-online.de
konkret wurde: “Welcher
Sportler äußert sich denn heute noch politisch? Es sei denn, es ist die Mainstream-Meinung, ‘Wir sind bunt’ oder ‘Refugees welcome’, wo man gesellschaftlich eigentlich nichts falsch
machen kann.” Die
Bild-Zeitung ließ daraufhin Prominente ihre Meinung zur Übermacht
des Mainstreams verkünden, den ehemaligen Fußballer Mario Basler etwa: “Man hat schon den
Eindruck, dass viele diplomatisch und vorsichtig antworten, weil es sonst Stress geben könnte.
Ich lass mir aber nichts verbieten und sage, was ich denke.” Kennen Sie Mario Basler?
Genau.

Den Mainstream zu kritisieren ist inzwischen Mainstream.

Sowenig sich die Deutschen darauf einigen können, was der Mainstream ist, so sehr können sie
sich darauf einigen, wie er ist: blöd.

Das überrascht mich. Wirklich bedrohlich kommt mir der Mainstream nicht vor. Und besonders
einengend auch nicht: Wenn etwas sowohl von links als auch von rechts aus betrachtet
meilenweit weg ist, dann muss das Dazwischen ziemlich groß sein. Je länger ich über ihn
nachdenke, desto mehr mag ich den Mainstream. Wenn es nach mir ginge, sollte er ruhig noch
viel größer und breiter sein als jetzt, das fände ich gut.

Wie bitte? Wo kommen wir denn hin, wenn alle das Gleiche sagen und denken? Konformismus!
Moralterror! Eine ganz miese Gehirnwäsche wird das, das wird man ja wohl noch sagen
dürfen.

Aber klar doch. Wenn es nach mir geht, soll man fast alles sagen dürfen. Das macht den
Mainstream stark. Er lebt vom Streit. Mainstream heißt ja nicht Konsens. Konsensgesellschaft,
das klingt tatsächlich nach dem Ersticken von Kontroverse und Vielfalt. Als gäbe es nur eine
Wirklichkeit, der alle zustimmen müssten.

Aber Mainstream? Schon das Wort zeigt doch, dass es um eine fluide Gestalt geht: einen Strom
voller Strudel und Strömungen, in dessen Grenzen Meinungen, Urteile und Standpunkte verhandelt
und verortet werden. Und wie breit er ist und wie weit er sich vom linken bis zum rechten Ufer
ausdehnt, das ist offen und veränderbar. Ein Strom ist etwas Lebendiges. Auf seine Ausdehnung
und damit auf seine Kraft und Geschwindigkeit kann die Umwelt Einfluss nehmen.

Momentan denke ich oft, dass es mir lieber ist, in einer Gesellschaft mit einem starken
Mainstream zu leben, als in einer Gesellschaft, die sich in existenziellen Fragen spaltet.

Wenn ich zum Beispiel sehe, wie sich im Streit um den Brexit mitten in London erwachsene und
wahrscheinlich im Grunde vernünftige Menschen gegenüberstehen und sich
“leave”
und
“remain”
ins Gesicht schreien wie absolute Wahrheiten, weiß ich nicht, was diese
Wahrheiten noch verbinden könnte. Aber da fließt nichts mehr zusammen. Es gibt kein Dazwischen
mehr. Keine Annäherung, keine gemeinsamen Schnittmengen, keine Möglichkeit zum Kompromiss. Da
ist nur noch ein tiefer Graben.

Oder wenn in Frankreich der Präsident gerade “Bürgerdebatten” organisiert, um überhaupt mit
der eigenen Bevölkerung ins Gespräch zu kommen: Dann frage ich mich, wie tief der Graben sein
muss, damit ein Teil dieser Bevölkerung das Gefühl hat, erst wenn er in gelben Westen die
Straßen auseinandernehme, werde er angehört. Vor Kurzem beschimpften Gelbwesten in Paris den
jüdischen Philosophen Alain Finkielkraut mit antisemitischen Parolen. Hinterher sagte
Finkielkraut, er betrachte den Antisemitismus als Zeichen dafür, dass mit Frankreichs
Gesellschaft etwas nicht mehr stimme: “Es gibt keinen Zusammenhalt mehr.”

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