/Inklusion: “In der Praxis ist sehr viel schiefgelaufen”

Inklusion: “In der Praxis ist sehr viel schiefgelaufen”

Schülerinnen und Schüler mit
Lernschwierigkeiten oder Behinderung sollen genauso am normalen Unterricht
teilnehmen können wie alle anderen Schüler auch. Auf den Tag genau seit zehn
Jahren gilt in Deutschland diese Verpflichtung aus der
UN-Behindertenrechtskonvention. Doch wie gelingt Inklusion im praktischen
Schulalltag? Wir haben Pit Katzer gefragt, ehemaliger Schulleiter und
Inklusions-Vorkämpfer. Vor anderthalb Jahren hat er dem Hamburger Senat mit seiner Initiative “Gute Integration” zahlreiche Verbesserungen abgetrotzt.  

Elbvertiefung: Herr Katzer, 2017 waren Sie einer der Köpfe der
Volksinitiative “Gute Inklusion”. Was hat Ihre Initiative rückblickend
erreicht?

Pit Katzer: Die
Bürgerschaft hat nach den Verhandlungen mit der Initiative  im Dezember 2017 beschlossen, die
Personalausstattung für die Inklusion deutlich zu verbessern. In den Anfangsjahrgängen
– also den Vorschulklassen und ersten Klassen in der Grundschule, den fünften
Klassen und elften Klassen in den weiterführenden Schulen wurden bereits
zusätzliche Lehrerstellen bewilligt. Das wächst in die folgenden Jahrgänge
durch.

Pit Katzer ist zweifacher Vater, fünffacher Großvater und war Schulleiter einer Stadtteilschule, die für die beispielhafte Umsetzung inklusiver Bildung ausgezeichnet wurde. Seit 25 Jahren beschäftigt er sich mit Inklusion und Integration.
© Christophe Gateau//dpa

ZEIT ONLINE: Wie
viele zusätzliche Stellen werden dadurch entstehen?

Katzer: Damals
sind wir von 300 zusätzlichen Lehrerstellen ausgegangen, wenn alle Jahrgänge
versorgt sind. Das ist schon eine richtig große Steigerung. Inzwischen haben
wir aber zum einen insgesamt gewachsene Schülerzahlen, zum anderen einen
höheren Prozentsatz an Schülern, die in Inklusionsklassen gehen statt auf
Sonderschulen. Inzwischen kann man davon ausgehen, dass am Ende 400 zusätzliche
Stellen geschaffen werden.

ZEIT ONLINE: Das
klingt doch gut.

Katzer: Ja,
allerdings haben wir ein Problem, diese bewilligten Stellen auch alle zu
besetzen – ganz unabhängig von der Inklusion wird es in Hamburg immer
schwieriger, Personal für die Schulen zu finden. Ganz besonders schwer ist das
im Bereich Pflege und Therapie. Da verschärfen die Versäumnisse der Behörde
sogar das Problem.

ZEIT ONLINE: Was
meinen Sie damit?

Katzer: Wir haben
erstmalig durchgesetzt, dass es an den inklusiven Schulen mit mindestens fünf
körperlich behinderten Schülern Pflege und Therapie durch staatlich bezahlte
Kräfte gibt, vergleichbar mit der Situation in Sonderschulen. Das ist erst
einmal positiv. In der Praxis ist allerdings sehr viel schief gelaufen. Das
Personal hätte zum Schuljahresbeginn anfangen sollen, das heißt, die Schulen
hätten diese Stellen bis Ende Mai ausschreiben müssen. Die Schulleiter wurden
aber erst anderthalb Wochen vor den Sommerferien informiert, dass es dieses
Paket für alle Jahrgänge geben soll. Das ist schon ein Skandal.

ZEIT ONLINE: Das
heißt, die Schulen müssen weiterhin ohne Pflegekräfte und Therapeuten
auskommen?

Katzer: In dem
Bereich ist bisher tatsächlich kaum etwas umgesetzt worden. Die Ausschreibungen
sind erst zum September erfolgt, als das Schuljahr schon einige Wochen lief.
Und das bei einem Arbeitsmarkt, der mindestens so leergefegt ist wie der
Lehrer-Arbeitsmarkt. Nur zehn Prozent der vereinbarten Stellen konnten zu Mitte
September noch besetzt werden. Jetzt warten wir auf Zahlen, wie es zum zweiten
Halbjahr aussieht. Das ist der quantitative Aspekt.

ZEIT ONLINE:
Woran hapert es noch?

Katzer:
Mindestens genauso problematisch ist, dass die Schulbehörde keinerlei
qualitative Vorbereitungsmaßnahmen ergriffen hat. Man braucht ja ein Konzept,
wie die Pflege und Therapie in den Schulalltag integriert werden soll. Da haben
die Sonderschulen viel Erfahrung, die den inklusiven Schulen helfen kann. Wir
haben uns deshalb schon vor einem Jahr mit den Leitungen der Sonderschulen für
Körperbehinderung zusammengesetzt.  Sie
hatten sich bereit erklärt, zusammen mit Vertretern der inklusiven Schulen
Konzepte für eine in den Unterricht integrierte Therapie sowie für die
Fortbildung von Schulleitungen, Förderkoordinatoren und Lehrern an den
inklusiven Schulen zu erarbeiten. Im Kern geht es darum, dass die Schüler
therapeutisch im Unterricht begleitet werden, um ihre Teilhabe zu erweitern und
ihre Eigenständigkeit zu fördern. Darauf müssen alle Berufsgruppen in den
inklusiven Schulen vorbereitet werden, nicht nur die Therapeuten und
Pflegekräfte. Die Schulbehörde hat aber bis heute noch nicht einmal eine
Arbeitsgruppe eingerichtet, die ein Konzept entwickelt, das den inklusiven
Schulen hilft, diese komplexe Aufgabe zu meistern. Der Senator hat zwar mit uns
darüber gesprochen, aber in der Schulbehörde wurde nichts davon umgesetzt. Das
ist hochproblematisch, auch weil dadurch Therapeuten verschlissen werden.

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