/Julia von Heinz: “Eigentlich sieht man nur einen Rücken”

Julia von Heinz: “Eigentlich sieht man nur einen Rücken”

Der Schwarzwald-“Tatort” vom 10. März hat Reaktionen hervorgerufen, die selbst für das routinierte Schimpfen über den
ARD-Sonntagabendkrimi ungewöhnlich waren. In dem Film
“Für immer und dich” der Regisseurin Julia
von Heinz
ging es um einen älteren Mann, Martin, der mit dem 13-jährigen
Mädchen Emily durch Europa reist. Die Handlung setzt ein, als Martin mit der
inzwischen 15-jährigen Emily zurück nach Freiburg kommt. Während Martin versucht,
Geld aufzutreiben, beginnt sich Emily von ihm zu distanzieren. Auf Social Media
und auch in einigen der fast 300 Kommentare unter unserer Tatort-Kolumne wurde
kritisiert, der sexuelle Missbrauch werde verharmlosend dargestellt. Für
Empörung sorgte weiter die – selbstverständlich nur gespielte – Tötung eines
Hundes.

ZEIT ONLINE: Wie haben Sie die
Reaktionen während der Ausstrahlung Ihres Tatorts
wahrgenommen? 

Julia von Heinz: Ich war auf Twitter, wovon einem jeder
abrät. Dort herrschte von der ersten Sekunde an eine Negativität, die mich erstaunt
hat. Und als der Hund starb, gab es einen einzigen Aufschrei. Nach Ende des
Films und 6.000 Tweets war ich fix und fertig. Ich hatte das Bedürfnis, meine
Schauspieler zu kontaktieren, weil ich das Gefühl hatte, sie in etwas
reingeritten zu haben. Meine Redakteurin Katharina Dufner war rationaler, sie meinte:
Diejenigen, die konzentriert zuschauen und nicht live kommentieren, melden sich
erst nach Ende des Films; lies dir das in einer Stunde noch einmal durch. Es stimmte
– diese Reaktionen waren differenzierter und positiver. 

ZEIT ONLINE: Und wie stellt sich mit ein wenig Abstand der
Eindruck dar, den Ihr Tatort
hinterlassen hat? 

Von Heinz: Positiv. Auf dem Benotungs-Tool der Tatort-Facebook-Seite hatten wir Einsen,
Zweien oder Sechsen. Kaum Mittelfeld. Und auf dem Krimifestival in Wiesbaden habe
ich kurz nach der Ausstrahlung den Regiepreis gewonnen. Dort habe ich auch Andreas Lust, den Darsteller des Martin, wiedergetroffen. Er hatte harte Reaktionen auf
seine Darstellung dieses Mannes bekommen, wurde auf Social Media als
Psychopath und Kinderschänder beschimpft. Das kann man sich schönreden wie im
Kasperletheater, wenn die Kinder danach sagen: Das Stück war doof, weil die
Hexe böse war. Aber ein Schauspieler liefert sich dem Zuschauer eben mit Haut
und Haaren aus. Andreas fand, seine nächste Rolle müsse nicht gleich wieder so
ein Antagonist sein.

“Man will die Verbrechen nicht so genau sehen”

ZEIT ONLINE: Was das Kasperletheater angeht: Man fragt man
sich schon, ob die Leute wirklich nicht zwischen Rolle und Darsteller
unterscheiden können – oder ob sie nicht wollen.

Von Heinz: Genau. Fiktionale Filme im deutschen Fernsehen
sind fast ausschließlich Krimis. Das Verbrechen dient der Entspannung. Es gab
eine ARD-Vorabendreihe, die hieß Heiter
bis tödlich
– das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen, im Grunde
genommen ist es zynisch. Und bei meinem Tatort
twitterte jemand empört: “Wie kann die ARD solche Verbrechen zeigen!”
Ein Krimi zeigt nun mal Verbrechen. Aber man will sie offenbar nicht so genau
sehen.

ZEIT ONLINE: Missbrauch ist ein sensibles Thema. Ihr Tatort bringt einem das unangenehm nahe,
weil man an den Figuren so nah dran ist.

Von Heinz: Letztlich haben die Zuschauer drei Szenen
aufgebracht. Szenen, in denen üblicherweise ein Schnitt gesetzt worden wäre:
Martin kommt zu Emily ins Bett. Normalerweise legt sich der Mann dann hin, es gibt vielleicht noch einen Blick, dann
Schnitt, nächster Morgen, und wir ahnen alle, was geschehen ist. Die zweite
Szene ist die, in der er Emily zum Sex überreden will, indem er ihr
Kinderunterhosen mitgebracht hat. Und die dritte ist die Tötung des Hundes – wenn Martin ihn in den Wald führt, erwartet man
einen Schnitt, maximal noch ein Jaulen aus dem Off. Aber ich habe entschieden:
Da fängt die Szene erst an. Das war ungewohnt.

Julia von Heinz

Julia von Heinz, geboren 1976, ist Regisseurin und Honorarprofessorin für Spielfilmregie an der HFF München. Ihre Romanverfilmung “Ich bin dann mal weg“ mit Hape Kerkeling war einer der erfolgreichsten Kinoproduktionen 2016. Für ihren ARD-Fernsehfilm “Katharina Luther” war sie 2018 für den Deutschen Fernsehpreis und den Grimmepreis nominiert. “Für immer und dich” ist ihr erster “Tatort”.
© HFF München / Robert Pupeter

ZEIT ONLINE: Warum mussten Sie die
Tötung des Hundes zeigen?

Von Heinz: Ich hatte den Hund zuvor als Figur aufgebaut, als
Freund von Emily. Das Mädchen hat eine innige Beziehung zu ihm, während die zu
Martin abgeflaut ist. Der Hund verhält sich fast menschlich, er verteidigt das
Mädchen, rettet sie aus der Sexszene. Einmal beißt er Martin. So einen
Charakter kann man nicht im Off abmurksen. Man muss miterleben, welches drastische
Ende der Hund findet. Das war eine sehr bewusste Entscheidung. Es ist ja auch teuer,
so etwas zu drehen.

ZEIT ONLINE: Wieso?

Von Heinz: Man muss einen Hund finden, der begabt ist und
das spielen kann. Das Szenenbild muss ihn eins zu eins nachbauen mit Fellstruktur.
Und dann muss man die Szene so auflösen, dass der Zuschauer nicht sieht, wie wir
zwischen Puppe und echtem Tier wechseln. Das kostet Zeit und Geld. 

ZEIT ONLINE: Es gibt die Sorge, dass die Darstellung krasser
Gewalt gegenüber dem Leid abstumpfen lässt.

Von Heinz: Da bin ich mir nicht so sicher. Es ist doch auch
möglich, dass der Zuschauer abstumpft, wenn man im Krimi die Brutalität wegschneidet
und tut, als wären Gewaltverbrechen nicht so schlimm. Wenn wir ernst nehmen,
was uns Heiter bis tödlich an krassen
Dingen erzählt, würde vielleicht das Bedürfnis abnehmen, immerzu Krimis zu schauen. Ich bin dafür, den Krimi ernst
zu nehmen. Wenn die Leute das dann nicht sehen wollen, erzählt man halt mal
keinen Krimi. Es gibt filmisch so viel Spannenderes als den zehntausendsten Kriminalfilm.

ZEIT ONLINE: Ich fand die Szene, in der der Hund getötet
wird, auch hart, aber gut und wichtig. Sie sagt viel aus über den Täter Martin.
Über den Machtverlust und die Lebenslüge dieses Mannes. Seine Verzweiflung
darüber, das realisieren zu müssen ohne es ändern zu können, resultiert in
Gewalt gegen den Schwächsten.

Von Heinz: Das finde ich auch. Außerdem steckt darin ein klassisches
Spannungselement. Wenn er den Hund umbringt – bringt er dann auch noch
Emily um? Ob das Mädchen hier heil rauskommt oder nicht, das ist die Frage, die
die Zuschauer durch den Film zieht. Und es braucht diese Drastik, damit Emily
begreift: Jetzt muss ich gehen. Dieser Schritt baut sich langsam auf – wenn sie die anderen Teenager am See sieht, aber selbst
mit dem alten Kerl rumhängen muss, wenn sie den selbst gedrehten Porno auf
Martins Rechner entdeckt und davon abgestoßen wird. Emily muss die Tötung gar
nicht sehen, weil der Zuschauer ihr vorher schon so nahegekommen ist, dass es
stellvertretend funktioniert. Durch die drastische Darstellung wird klar: Jetzt
reicht es. 

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