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Lesen: Wozu brauchen Kinder noch Bücher?

Wer Kinder heute fürs Lesen begeistern will, muss sich etwas einfallen
lassen. Rund 20 Drittklässler lümmeln an einem Morgen im Februar auf Schaumstoffmatten in
einem abgedunkelten Raum herum. Die Schüler sind zu Besuch bei einer Veranstaltung, die sich
“Tent-Reading” nennt: Zehn kleine Tipis heben sich gegen das Dämmerlicht ab, an den Wänden
flackern Projektionen von Lagerfeuern. Jedes Kind wird sich gleich ein Buch aussuchen, eine
Taschenlampe bekommen und gemeinsam mit einem Mitschüler in eins der Zelte kriechen. Eine
halbe Stunde haben sie dann Zeit, um zu erfahren, wie abenteuerlich Bücherlesen sein kann.
Eine halbe Stunde, in der sie zum Lesen verführt werden sollen – das ist der Plan des
Kinderteams der Dokk1-Bibliothek im dänischen Aarhus. Die Kinder seien an regelmäßige
Lesezeiten im Unterricht gewöhnt, flüstert die Lehrerin, als nur noch die Füße ihrer Schüler
aus den Zelteingängen schauen. Die Drittklässler werden später sagen, es sei “schön”, “gut”,
“mysteriös” und auch “ein bisschen unheimlich” gewesen.

Früher schmökerten Kinder zu Hause mit Taschenlampe unter der Decke, heute besuchen sie dafür Events wie das Tent-Reading, während in den Kinderzimmern die heimlich ins Bett geschmuggelten Smartphones leuchten – auf denen auch gelesen wird, aber anders und anderes.

Das Lesen ist gerade in der digitalen Gesellschaft die Schlüsselkompetenz für gesellschaftliche Teilhabe. Es wäre also gut, man könnte den Kindern nicht nur die Pflicht, sondern auch die Lust daran vermitteln. Nur liegt der Coolnessfaktor der guten alten Bücher schon für Grundschüler deutlich hinter dem von Smartphone, Tablet und PC.

Zwar sagt laut der Kinder- und Medienstudie fast jedes zweite Kind, dass es Bücher und Lesen interessant findet. Doch spätestens seit in der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung 2016 herauskam, dass knapp 20 Prozent der Zehnjährigen in Deutschland nicht so lesen können, dass sie einen Text auch verstehen, schlagen Lehrer, Experten und Eltern Alarm, weil sie um die Lesekompetenz der jungen Generation bangen: Werden Kinder und Jugendliche in Zukunft überhaupt noch in der Lage sein, komplexe Texte zu verstehen, wenn sie mit permanent verknappten Informationen aufwachsen, die auf die Größe eines Smartphone-Displays passen? Werden ihre Gehirne andere Vernetzungen ausbilden, wenn das digitale Lesen die Lektüre auf Papier ersetzt?

Seit 2014 versucht eine Gruppe von knapp 200 Wissenschaftlern unterschiedlicher Forschungsfelder aus mehr als 30 europäischen Ländern, darunter Neurobiologen, Philosophen, Soziologen, Informatiker und Pädagogen, zu ergründen, welche Folgen die Digitalisierung für das Lesen hat. Im vergangenen Oktober kam “E-Read”, so der Name des Großprojekts, in Norwegen zusammen und veröffentlichten einige ihrer Kernerkenntnisse in der “Stavanger Erklärung”.

Eine Leitfrage der Arbeit war, wie Texte aufgenommen und behalten werden, abhängig vom Medium, auf dem es konsumiert wird. Ein zentrales Ergebnis: Wer auf Papier liest, kann Informationen besser verarbeiten, als wenn er digital liest, weil auf Bildschirmen in der Regel schneller und oberflächlicher gelesen wird. Aber, und das ist für die Debatte über das Lesen der Zukunft entscheidend: Bei narrativen Texten ist das analoge Medium dem digitalen nicht mehr überlegen. Das ist zumindest die Erkenntnis einer Metastudie, für die immerhin 54 Einzeluntersuchungen mit 170.000 Probanden ausgewertet wurden.

Dass man schnell Informationen aus Texten extrahieren kann, ist im Alltag wichtig. Doch aus der Forschung weiß man seit Langem, dass es die narrativen Stoffe sind, Erzählungen, in die wir abtauchen, die sich besonders positiv auf die kognitive Entwicklung auswirken. Durch Geschichten üben wir, die Welt aus anderen Blickwinkeln und durch die Augen anderer Menschen zu sehen; wir dürfen sogar zum Mörder werden, ohne Sanktionen fürchten zu müssen. Lesend setzen wir uns mit uns selbst auseinander, üben Konzentration und Reflexion, suchen nach eigenen Antworten, statt vorgefertigte zu konsumieren. Das gelingt aber nur beim
deep reading,
wenn sich Leser tief in eine Handlung hineingezogen fühlen. Ob man dafür in eine Papierseite oder einen Bildschirm abtaucht, ist laut den E-Read-Erkenntnissen nebensächlich.

Auf Kinder, die noch keine sicheren Leser sind, lässt sich das aber nicht einfach übertragen. Wer noch mühsam Buchstaben zu Wörtern und Wörter zu Sätzen aneinanderreiht, um im nächsten Schritt deren Sinn herauszufiltern, für den ist Lesen Arbeit, kein Genuss. Und da sich Kinder entwicklungsbedingt leichter ablenken lassen, sollte man ihnen Orte und Gelegenheiten anbieten, wo sie vertieftes Lesen erleben und üben können.

Aber wie schafft man Orte, an denen Kinder sich konzentriert auf eine Geschichte einlassen können? Wann haben sie neben Ganztagsschule, Hobbys und Pendelei zwischen den getrennten Elternteilen überhaupt noch Zeit dafür? Wo machen sie die faszinierende Erfahrung, dass aus Buchstaben eine ganze Welt erwachsen kann?

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