/Jáchym Topol: Böhmen am giftigen Meer

Jáchym Topol: Böhmen am giftigen Meer

Vor ein paar Jahren erbte Jáchym Topol von seiner Mutter ein halb
verfallenes Sommerhaus. Es steht eine gute Stunde von Prag entfernt in einem waldreichen
Gebiet, wo der Fluss Sázava gemächlich durchs südöstliche Böhmen schlingert. Momentan leben
zwei Männer aus dem nahen Dorf im Haus, sie sollen Dach und Zäune reparieren, ein junger Kerl,
gerade aus dem Gefängnis entlassen, sowie sein blinder Vater. Morgens legt der Junge die Hände
des Vaters um den Schaft der Axt, und dann holzt der Alte los. Es steht nicht fest, wann das
Haus fertig sein wird. Auch wann Topol wieder hinfährt, ist nicht sicher, nicht einmal, ob er
dazu überhaupt noch Lust hat. Einen bitterkalten, holzgeheizten Winter verbrachte er auf dem
Land in dem leeren Haus und einen trägen, überheißen Sommer. Es war mühsam, den neuen Roman
fertig zu schreiben, es war ein Abenteuer unter extremen Bedingungen, der Verzicht auf ein
gewöhnliches Literatenleben. Das Buch heißt
Ein
empfindsamer Mensch,
nun erscheint es in Deutschland, von Eva Profousová vorzüglich aus
einem kniffligen Tschechisch übersetzt.

Ein empfindsamer Mensch spielt genau dort, in einer der Sázava-Schleifen: Waschbären trotten gelassen über die Campingplätze, die Waldbordelle tarnen sich als Blockhäuser, und wenn man eine Motorsäge ausleihen will, gilt die Flasche Fernet als Währung. Der Schauplatz ist altes mitteleuropäisches Literaturland, Feen- und Geschichtenland.

Alle Besatzer Tschechiens zogen dort hindurch, die Zivilisation hinterließ ihre ranzigen Spuren, und trotzdem haben die Menschen es geschafft, zu bleiben, wie sie immer waren, arm, durstig und erzählfreudig, stets ein fantastisches Vorhaben verfolgend, das ihnen den Reichtum bringen soll und naturgemäß zum Scheitern verurteilt ist. Da kommt es zu den seltsamsten Begegnungen: “Wohin des Wegs, fragt eine betörende Erscheinung, eher Phantasiegebilde als Menschenwesen. Es reibt seine Pobacken an einer in den Sand gerammten Bretterbude, die geschwollenen Drüsen in seinem gesprenkelten Kropf lassen seinen Hals dermaßen breit aussehen, dass der Junge lieber die Lider zuklappt.” Topol entwirft keineswegs ein böhmisches Dorfidyll.

Dem Schriftsteller aus Prag, so berichtet er bei einem Treffen in Berlin, haben die Leute nach einer Weile des Fremdelns alle ihre Geschichten erzählt. Der Roman ist prall und rund von Episoden, grotesken, grausamen, rührenden. Um den russischen, nach Jahrzehnten aus dem Flussschlamm sich erhebenden Panzer kreist nur eine. Noch immer funktioniert seine Haubitze. Die Landschaft, die hier zu Literatur wurde, ist nicht nur Natur, sondern genauso eine Deponie der Zeitläufte. Topol hätte ihre Bewohner als Opfer der Geschichte beschreiben können, einer Geschichte, die dort zäher fortlebt als anderswo und auch nach 1990 das Leben nicht viel besser machte. Er tat es nicht. Er lebte zwar gerne im Dorf, mag dessen Bewohner, aber er sah ihnen auch als Schriftsteller zu, das heißt mit kaltem Blick.

Er erzählt, die Leute hätten die Geschichte gewissermaßen hinter sich gebracht und lebten nun in einer künstlichen Zeit. Niemand dort liest mehr eine Zeitung oder sieht fern. Die einzige Verbindung zur Welt stellt das Internet her. Das Netz versorgt sie mit penetranter Regierungspropaganda nach russischem Vorbild. Sie haben Angst vor Migrantenströmen, die niemals kommen werden, schon gar nicht bis an die Ufer der Sázava. Die Weltbilder sind konfus, die Wirklichkeit ist archaisch und postmodern zugleich. Historische Erinnerung sei ausgelöscht und vibriere trotzdem nach, in einem Wort: “Ich wollte endlich einen Roman über die Gegenwart schreiben.”

Jáchym Topol ist inzwischen einer der ganz Großen der tschechischen Literatur, der sich über die Jahre auch zu einem verlässlichen Chronisten seiner Gesellschaft entwickelte. Heute ist er 57, jungenhaft, witzig erzählend, dann wieder wie versunken, sobald ihn etwas interessiert, sei es ein Bild oder eine Bemerkung oder ein Bauwerk. Alles ist politisch und kann zu Literatur werden. Sein Leben ist tief mit der oppositionellen Bewegung verwoben, die in Prag nie verschwand, aber auch dort viele Enttäuschte und Konvertiten hinterließ und mancherlei Metamorphosen unterlag.

In seiner Heimat ist er, wie er sagt, “sehr bekannt, aber nicht berühmt”. Auch in der Tschechischen Republik mündete der Kampf gegen Kommunismus und Unfreiheit nicht notgedrungen in liberale, weltoffene Positionen. So hat er Feinde in seinem Land. Die Populisten mögen ihn nicht, und dass er im Roman den amtierenden tschechischen Präsidenten in einem Gummiboot auftreten lässt, hat ihm auf der Rechten keine besonderen Sympathien eingetragen.

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