/Hanya Yanagihara: “Jemanden einfach nur für böse zu halten, ist feige”

Hanya Yanagihara: “Jemanden einfach nur für böse zu halten, ist feige”

ZEIT ONLINE: Frau Yanagihara, Das Volk der Bäume wurde in Amerika bereits
2013 veröffentlicht, jetzt erscheint es auf Deutsch. Ist es komisch, sechs
Jahre später wieder über Ihren Debütroman zu sprechen?

Hanya Yanagihara: Das Problem ist, dass ich mich, wenn ich an das Buch denke,
hauptsächlich daran erinnere, wie unglücklich ich in der Zeit war, in der ich
es geschrieben habe. Ich habe 18 Jahre lang daran gearbeitet, deswegen denke
ich vor allem an die Erfahrung des Schreibens, und daran, wie ich nervös wurde,
älter wurde und dachte, ich bin immer noch nicht fertig mit diesem Buch, ich
hänge auf dieser Insel mit diesen Leuten fest. Das war keine schöne Erfahrung.
Ich weiß immer noch nicht genau, warum ich mich in dieser ganzen Zeit nie von
diesem Buch abgewandt habe oder warum ich es geheim hielt.

Aber es gibt noch einen Grund,
warum es seltsam ist, dass das Buch genau jetzt erscheint: Die Fragen, die es
aufwirft, haben eine neue Relevanz. Zum Beispiel die Frage, ob wir den Gedanken
ertragen, dass jemand sowohl Dinge erreicht hat, die unbestreitbar gut sind,
als auch Dinge getan hat, die unbestreitbar schlecht sind.

ZEIT ONLINE: Der Protagonist des Buches, Dr. Abraham Norton Perina, wird zu Anfang
als jemand eingeführt, der des Kindesmissbrauchs angeklagt ist. Dann folgen die
Memoiren des Wissenschaftlers, das Buch ist also aus der Perspektive eines
Täters geschrieben. Wie schreibt man einen interessanten Verbrecher?

Yanagihara: Ich finde, man merkt immer, wenn eine
Autorin ihre Protagonisten verachtet. Wenn die Schriftstellerin keinen Respekt
für die Figur aufbringen kann – und es muss ja nicht gleich Zuneigung sein –,
dann gibt es für die Leser auch keinen Grund. Wenn ich an die frühen Stadien des
Manuskripts denke, sehe ich, wie viel Abscheu ich vor ihm hatte, und ich
glaube, das ist einer der Gründe, warum ich nie über eine bestimmte Anzahl von
Wörtern hinausgekommen bin. Das ist nicht tragfähig, es ist nicht interessant,
und es ist keine Geschichte, es ist nur ein Pappaufsteller, den man
schreckliche Dinge tun lässt. Mit der Zeit entwickelte ich Empathie für ihn –
ich hieß ihn nicht gut und ich fand ihn schädlich –, aber als Autorin muss man
eine ehrliche Empathie für den Protagonisten haben, sonst ist der Protagonist
kein Protagonist, und das Buch ist kein Buch.

ZEIT ONLINE: Das Buch spielt auf der fiktiven mikronesischen Insel Ivu’ivu, wo
Norton ein isoliertes Volk entdeckt, das durch den rituellen Verzehr von
Schildkrötenfleisch kaum noch zu altern scheint. Nortons Beschreibungen des
Stammes und des einzigen weiblichen Teammitglieds Esme sind durchdrungen von
Sexismus und Rassismus. Ist es schwer, Sexismus zu schreiben? Einen
kolonialistischen Blick? Oder macht es Spaß?

Yanagihara: Es macht Spaß. Aber man muss
aufpassen, dass es nicht didaktisch oder pedantisch wird. Jemanden einfach nur
für böse zu halten, ist feige und reduktiv, und man entlässt die Person aus der
Verantwortung. Man kann das nicht machen, um die Leser zum Aufschreien zu
bringen. Man muss verstehen, warum die Figur diese Dinge sagt, dass es etwas
ist, was ihr beigebracht wurde, dass es damit zu tun hat, wie sie aufgewachsen
ist, und die Leser müssen das Gefühl haben, dass sie wirklich glaubt, was sie
sagt. Ich wollte, dass Norton jemand ist, der ungeformt ist, jemand, der
kindlich ist in seinen Vorstellungen davon, wie die Welt funktioniert und was
es bedeutet, jemanden zu begehren. Jemand, der keine Sprache hat, um zu
artikulieren, was er fühlt – also reagiert er bloß, wie ein Kind. Er sieht
etwas, er nimmt es, und er denkt nicht an die Konsequenzen. Das ist nicht böse,
das ist zutiefst selbstsüchtig.

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