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Türkei: Ein neuer Feind für den Wahlkampf

Die Aufnahmen sind verpixelt, doch im Vordergrund ist
deutlich das Gewehr des Angreifers zu erkennen. Er befindet sich in einer Moschee und schießt auf Menschen, einige davon beim Gebet. In der Türkei ist diese Sequenz aus dem Livevideo des Terroranschlags von Christchurch zum Wahlkampfthema geworden.

Wiederholt wurde der Ausschnitt auf Veranstaltungen des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan gezeigt – um zu belegen, wie sehr die Muslime und insbesondere die Türkei
bedroht werden. Neuseeland kritisiert das als Instrumentalisierung der Terrorattacke, bei der am Freitag 50 Menschen getötet wurden. Auch die türkische Opposition wirft Erdoğan vor, mit den
Morden auf Stimmenfang zu gehen. “Es ist eine
Schande und eine Sünde”, sagte Pervin
Buldan, die Vorsitzende der prokurdischen HDP.

Zum ersten Mal hatte Erdoğan den bearbeiteten Ausschnitt am Wochenende auf einer Kundgebung gezeigt. In der
Sequenz, die auf riesigen Bildschirmen neben der Bühne abgespielt und live im
türkischen Fernsehen übertragen wurde, waren neben den Szenen aus der Moschee
auch Ausschnitte aus dem sogenannten Manifest des rechtsextremen Täters Brenton Tarrant zu sehen, in dem dieser die Türkei
und Erdoğan beschimpft.

Unter anderem droht der 28-Jährige, der 2016 mehrere
Wochen durch die Türkei gereist war, die Minarette der Hagia Sophia zu
zerstören. Die byzantinische Kirche war nach der Eroberung Istanbuls durch die
Türken in eine Moschee umgewandelt worden, bevor sie zu einem Museum
gemacht wurde. Erdoğan sieht in der Drohung einen weiteren Beweis dafür, dass die Türkei im Visier
finsterer Mächte ist. “Alle Muslime, unser Land, unsere Nation und ich selbst
werden angegriffen”, rief er bei der Veranstaltung.

In Neuseeland löste das Vorgehen des türkischen Präsidenten Empörung aus. Eine solche Politisierung des Terroranschlags
“gefährdet die Zukunft und die Sicherheit der neuseeländischen Bevölkerung und
unserer Bürger im Ausland und ist vollkommen unfair”, kritisierte Außenminister
Winston Peters. Er habe sich beim türkischen Vizepräsidenten Fuat Oktay und bei
Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu beschwert, als diese nach dem Anschlag
Neuseeland besuchten.

Ein willkommenes Thema

Erdoğan dürfte das erst einmal nicht davon abhalten, das Thema weiterzuverwenden. Am 31. März findet in der Türkei die Kommunalwahl in allen 81 Provinzen statt.
Angesichts einer Inflation von 20 Prozent und einer Wirtschaft, die erstmals
seit zehn Jahren in die Rezession gerutscht ist, wird ein knappes Rennen in den
Metropolen Istanbul und Ankara erwartet, die seit Jahren von Erdoğans AKP
regiert werden. Um dem drastischen Anstieg der Lebensmittelpreise zu begegnen,
hat die Regierung dort auf den großen Plätzen städtische Verkaufsstände
eingerichtet, die verbilligtes Gemüse anbieten.

Christchurch passt vor diesem Hintergrund zur grundsätzlichen Strategie des Präsidenten: Wie in früheren Wahlkämpfen setzt Erdoğan gezielt
auf die Polarisierung der Bevölkerung und stilisiert die Wahl zu
einem Kampf ums nationale Überleben. Für ihn geht es um die Verteidigung der
Einheit gegen innere und äußere Feinde, die das Land angeblich zu spalten suchen. Neben
der kurdischen Opposition, die Erdoğan der Unterstützung der separatistischen
PKK-Guerilla bezichtigt, zählt er inzwischen auch die säkulare
Zivilgesellschaft zu diesen Gegnern.

Rechtzeitig zum Wahlkampf legte die Staatsanwaltschaft
eine Anklageschrift gegen den Kulturmäzen Osman Kavala wegen Unterstützung der
Gezi-Proteste von 2013
vor, die Erdoğan heute als Umsturzversuch darstellt.
Nach einem Marsch zum Weltfrauentag warf der Präsident den Demonstrantinnen
zudem vor, den Islam beleidigt zu haben, weil sie den Gebetsruf ausgepfiffen
hätten. Die Frauen sagten dagegen, sie hätten geschrien, weil die Polizei sie
mit Tränengas beschossen habe.

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