/“Republik der Angst”: Eine Furcht jagt die andere

“Republik der Angst”: Eine Furcht jagt die andere

Neue Technologien verunsichern die Angestellten, auch in der Politik lösen
sie Ängste aus. Und die Arbeitnehmer fordern Schutz. “Schwangere dürfen nicht an
Bildschirmgeräten arbeiten”: So heißt es kategorisch in der Betriebsvereinbarung, in der auch
festgelegt wird, dass die Bildschirmtätigkeit nur die Hälfte der täglichen Arbeitszeit
umfassen darf; nach 45 Minuten vor dem “NIK-Gerät” sind erst einmal 15 Minuten Pause
vorgeschrieben. NIK – das ist die Abkürzung für Neue Informations- und Kommunikationssysteme,
gemeint sind Computer. Unter Punkt 3.1. wird beschlossen: “Mitarbeiter/innen haben das Recht,
die Arbeit mit NIK-Geräten abzulehnen.”

Wir schreiben das Jahr 1986, die Welt ist noch frisch erschüttert von der atomaren Katastrophe von Tschernobyl und die junge Partei der Grünen im Aufwind. Deren Bundestagsfraktion beschließt, NIK “in selbstbestimmter Weise zu erproben”, die grünen Abgeordneten verabschieden diese Vereinbarung mit dem Betriebsrat für ihre Mitarbeiter. Die grassierende Angst vor dem Bildschirm wird ernst genommen, mögliche Gefahren für die Gesundheit werden erwogen, Lösungen angestrebt.

Diese Episode illustriert, wie Ängste in einer modernen Gesellschaft real wirken können – auch wenn sie wenige Jahre später seltsam skurril erscheinen; ein Arbeitsalltag ohne Bildschirme war ja bald unvorstellbar. Der Historiker Frank Biess hat jetzt ein anschauliches Buch darüber geschrieben, wie die Deutschen (genauer gesagt: die Westdeutschen) seit 1945 mit ihren kollektiven Ängsten umgegangen sind. Denn das ist vielleicht die interessanteste Entdeckung, die man hier macht: Ängste tauchen nicht bloß auf, sondern sie werden oft ziemlich schnell von Staat und Gesellschaft bearbeitet – und sei es in Betriebsvereinbarungen.

Mein Jugendzimmer hatte ich zur atomwaffenfreien Zone erklärt, ein Aufkleber mit Friedenstaube schmückte die Tür.

Frank Biess

Republik der Angst ist ein historisches Buch, das den Nerv unserer Gegenwart trifft. Denn tatsächlich scheint es so, dass enorme Ängste unsere Epoche beherrschen: Von Terror über Finanzkrise bis Klimakatastrophe – überall Bedrohungen; ob die Menschheit überlebt, ist unklar. Wöchentlich demonstrieren Schüler für eine radikale Klimapolitik. Und Privates wird wieder politisch: Weniger Flugreisen und eine andere Ernährung sollen den Planeten retten. Tatsächlich wähnt man sich oft in einer Zeitreise, mitten hinein in die Stimmungslage jener Achtzigerjahre, die man doch, endlich cool geworden, überwunden zu haben glaubte.

Natürlich haben diese Achtzigerjahre ihren Platz in Biess’ Buch: So gaben 1982 in einer Umfrage 54 Prozent der Westdeutschen an, “vor irgendetwas Angst zu haben”, unter den Anhängern der Grünen waren es 70 Prozent. 89 Prozent der Grünen-Anhänger hielten einen neuen Weltkrieg innerhalb der nächsten drei Jahre für “möglich oder wahrscheinlich”. Biess spricht von einer regelrechten “Angstkultur“. Waldsterben, Pershings und Atomtod, Aids und Super-GAU – manchmal erscheint es wie ein Wunder, dass die Bundesrepublik von ihrer multiplen Furcht damals nicht zerrissen wurde. Aber wer weiß, vielleicht wurde sie ja nur durch die hoffnungsvoll gen Westen schauenden Ostdeutschen 1989 gerettet?

Biess, der seit 20 Jahren Europäische Geschichte in San Diego, Kalifornien, lehrt, geht in seinem Buch chronologisch vor und porträtiert verschiedene “Angstzyklen”; erst in einem Epilog schaut er auf die Zeit nach 1989 und erinnert daran, wie das Ausland in den Neunzigerjahren die
German angst
entdeckte, als angeblich nationale Kollektivpathologie mit neurotischem Pazifismus – wobei sich der Autor gegen die politische Instrumentalisierung der
German angst-Formel verwahrt.

Die Ängste begannen schon gleich 1945: “Vielleicht ist es gut, wenn man in der heutigen Zeit keine Kinder hat. Was bringt uns die Zukunft? Was ist noch Deutschland?”, schrieb Elisabeth L. im Juni 1945 in ihr Tagebuch; die Deutschen wurden während der Besatzungszeit von Vergeltungsängsten beherrscht, überall kursierten Gerüchte über Gewalttaten ehemaliger Zwangsarbeiter und Lagerinsassen. In den frühen Fünfzigerjahren brach dann die weithin vergessene Fremdenlegionär-Skandalisierung aus: Hysterisch wurde in der deutschen Öffentlichkeit über vermeintliche massenhafte kriminelle Anwerbungen und Entführungen junger Deutscher durch die französische Fremdenlegion diskutiert. Eine Juso-Broschüre kritisierte 1954, dass junge Deutsche als Fremdenlegionäre neben “Marokkanern” und “Negern” für den französischen Kolonialismus stürben. Wenige Jahre später hatten die Westdeutschen Angst vor dem Atomkrieg: 18 Millionen Haushalte bekamen 1961 von der Bundesregierung die Broschüre
Jeder hat eine Chance
zugeschickt, mit der die Bevölkerung über Schutzmaßnahmen bei einem Atomschlag aufgeklärt werden sollte, inklusive Tipps zum privaten Bunkerbau. Trotz des bewusst zuversichtlichen Claims erzeugte die von einer Werbeagentur erstellte Broschüre Unruhe; 1958 hatten nur 20 Prozent der Bundesbürger geglaubt, die Amerikaner könnten einen sowjetischen Angriff abwehren. Erst mit John F. Kennedys Auftritt im eingemauerten West-Berlin 1963 wuchs das Vertrauen in die Vereinigten Staaten.

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