/Anke Stelling: Schweigen in Prenzlauer Berg

Anke Stelling: Schweigen in Prenzlauer Berg

Wie mag sich das wohl anfühlen, wenn man seiner Romanfigur
einen Literaturpreis verleiht und diesen Preis dann selbst bekommt? Anke Stelling wird diese Frage in den nächsten Stunden und Tagen häufig beantworten müssen. In ihrem Roman Schäfchen
im Trockenen
bekommt die enttäuschte, wütende, von Existenzangst geplagte
Erzählerin Resi einen Literaturpreis in Höhe von 15.000 Euro. Genauso hoch ist
der Leipziger Buchpreis dotiert, den Stelling nun absolut verdient erhalten
hat.

Man könnte das als Hybris auslegen oder als geplante
Provokation. Doch Stellings Biografie legt nahe, dass die Idee einem langen Kampf,
einem mühevollen Ringen um Sprache, um Selbstermächtigung geschuldet ist.
Einem Anschreiben gegen Sätze wie “Lass es gut sein!” Mit diesem Satz habe ihre
eigene Mutter, hätten viele Mütter die Gespräche mit ihren Töchtern beendet,
schreibt die Romanfigur Resi. Sie schreibt das nicht für sich, sondern für ihre älteste
Tochter Bea, die sie abhärten will für ein Leben in einer ungerechten Welt, in
der es sehr wohl darauf ankommt, aus welchem Milieu man stammt und wie viel
Geld man hat.

Stelling bezeichnet ihr Buch als Aufklärungsroman.
Das trifft in mehrfacher Hinsicht zu: Es ist der Monolog einer Frau,
Mitte 40, gerichtet an ein 14-jähriges Mädchen. Es ist eine Angstschrift über das
Herausfallen aus der Gesellschaft. Und nicht zuletzt die Wutrede einer
Künstlerin, die es nicht hinnehmen will, mundtot gemacht zu werden. Weil sie
unbequem ist, weil sie es wagt, aus ihrer unterprivilegierten Stellung heraus (prekäre
Verhältnisse, vier Kinder) das
Leben ihrer wohlhabenden Clique zu sezieren.  

Der Name Resi sei eine Ableitung des griechischen Wortes parrhesia, der Redefreiheit, hat Anke Stelling in Interviews erklärt. Das wirkt
auf den ersten Blick etwas pathetisch. Doch der Begriff der Parrhesie
und seine philosophische Auslegung finden ihre Entsprechung in der Erzählhaltung des Romans. Die
Freiheit, über alles zu sprechen, wird nämlich nur dann als Parrhesie geachtet,
wenn der oder die Kritisierende etwas zu verlieren hat. Und im sozialen Gefälle
unter den Kritisierten steht.

Anke Stellings Resi tut das. Sie hat das Baugruppenprojekt ihres schwäbischen
Freundeskreises in Prenzlauer Berg erst in einem Artikel, dann in einem Buch beschrieben.
Und sie bekommt die Rechnung dafür. Ihre beste Freundin Vera schreibt ihr einen
Abschiedsbrief, wie ihn nur Frauen schreiben können: Ich liebe Dich, aber halte
Dich von mir und meinen Kindern fern. Veras Ehemann, in dessen Wohnung Resi mit ihrer Familie lebt, ist da eindeutiger. Er schickt die Kündigung für den Mietvertrag.
Wer in der finanziellen Hierarchie unten steht, muss sich überlegen, wohin er
austeilt.

Vieles an dieser Resi mag man autobiografisch lesen: Anke Stelling, Jahrgang 1971, geboren in Ulm, 1991 nach Berlin gezogen, ab 1997 am
Leipziger Literaturinstitut studiert, seit 2002 wieder in Berlin, Mutter dreier
Kinder, Baugruppenmitglied, Prenzlauer Bergerin, schrieb lange relativ
erfolglos, bis sie 2015 beim unabhängigen Berliner Verbrecher Verlag eine Heimat
fand. Ihr Roman Bodentiefe Fenster
über das Leben in einem selbstverwalteten Gemeinschaftshaus in Prenzlauer Berg
wurde 2015 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Schäfchen im Trockenen baut darauf auf. Die Protagonistin ist jedoch eine
andere, sie gehört nicht zu den privilegierten, die im Haus wohnen,
sondern zu denen, die von außen durch die “bodentiefen Fenster” blicken.

Die Geschichte geht weit über eine persönliche
Nabelschau hinaus, sie ist auch nicht – wie in vielen Kritiken zu lesen war – die
literarische Antwort auf die Gentrifizierung in deutschen Großstädten. Stellings
Roman ist eine zutiefst sarkastische und tieftraurige Abrechnung mit den
Idealen der westdeutschen Nachkriegszeit – alle haben dieselben
Chancen, alle machen es besser als ihre Eltern, jeder kann alles werden, Gerhard Schröder, Kind aus ärmlichen Verhältnissen, rüttelt an Stäben und fordert sein
Recht auf Teilhabe ein. Mit Erfolg.

Resi steht auf einem Papiercontainer vor dem schicken Neubau
ihrer alten Jugendfreunde. Sie schreit nicht, sie rüttelt nirgends. Sie
versucht nur, nicht von dem verdammten Container herunterzufallen. Kurz überlegt sie,
aus Protest “auf den Rasen zu scheißen”, verwirft die Idee aber, will nicht,
dass ihre Exkremente “als willkommener, gottverdammter Dünger” für den
Wohlstand der anderen dienen. So schleicht sie sich weg, ungesehen, ungehört, zurück
ins Dunkel.

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