/Pflege: Ein Rollstuhl kann verdammt schwer sein

Pflege: Ein Rollstuhl kann verdammt schwer sein

Der Rollstuhl rumpelt über
den Bürgersteig, der Beton hat Löcher und tiefe Risse, der Rollstuhl bleibt
immer wieder stecken, und ich muss ihn immer wieder heraushieven. Ich schwitze,
dabei sind wir erst ein paar Hundert Meter unterwegs. Meine Mutter muss zum
Arzt, heute Morgen hatte sie heftige Schmerzen, und die Mitarbeiterinnen im Pflegeheim,
in dem meine Mutter lebt, haben den Arzt angerufen.

Pflege: Simone Schmollack ist Journalistin und Buchautorin. Sie studierte Germanistik, Slawistik und Journalistik in Leipzig, Smolensk und Berlin. Sie war über zehn Jahre Autorin und Redakteurin der "taz". Ihre Themenschwerpunkte sind Frauen, Familie, Gender, Soziales, Ostdeutschland, Migration/Integration. Von Dezember 2017 bis Juni 2018 war sie Chefredakteurin der Wochenzeitung "der Freitag". Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".

Simone Schmollack ist Journalistin und Buchautorin. Sie studierte Germanistik, Slawistik und Journalistik in Leipzig, Smolensk und Berlin. Sie war über zehn Jahre Autorin und Redakteurin der “taz”. Ihre Themenschwerpunkte sind Frauen, Familie, Gender, Soziales, Ostdeutschland, Migration/Integration. Von Dezember 2017 bis Juni 2018 war sie Chefredakteurin der Wochenzeitung “der Freitag”. Sie ist Gastautorin von “10 nach 8”.
© Barbara Dietl

Seit einem Schlaganfall vor
ein paar Jahren hat meine Mutter eine ausgeprägte Apraxie und Aphasie, sie ist
halbseitig gelähmt, muss aus dem Bett in den Rollstuhl gehoben und angezogen
und nachts mehrmals im Bett gewendet werden. Sie muss gewindelt, gewaschen,
gekämmt werden, nichts kann sie mehr allein machen. Nicht einmal mehr sprechen,
sie kann also auch nicht sagen, was ihr genau wehtut. Man erkennt lediglich an
ihrem schmerzverzerrten Gesicht, dass etwas nicht stimmt.

Heute Morgen war es wieder
so weit. Doch der Arzt, der zu den alten Leuten ins Pflegeheim kommt, wollte
meiner Mutter kein Medikament geben, kein Schmerzmittel, keine Antibiotika. Er
meinte, da müsse ein Spezialist ran. Zu dem sind wir jetzt unterwegs.

So läuft es immer, wenn
etwas Unvorhergesehenes mit meiner Mutter geschieht: Die Schwestern im Heim
rufen mich an und erzählen mir, was los ist, morgens, mittags, abends, egal
wann, es kann immer etwas passieren. Dann muss ich ran, sofort. So wie heute
Morgen, es war noch dunkel, als mein Handy vibrierte und die Nummer des
Pflegeheims aufploppte. Ich ahnte: Dieser Tag ist gelaufen, heute kommst du zu
nichts anderem als zu diesem privaten Pflegejob.

Ich mache das eher
unfreiwillig und nicht mit überbordender Freude, aber ich bin die gesetzliche
Betreuerin meiner Mutter, so hat es das Amtsgericht bestimmt. Jemand in der
Familie muss das ja machen. Ich muss alles entscheiden, was meine Mutter
betrifft: Darf die Logopädin den Sprachcomputer benutzen, um mit meiner Mutter
ein paar Laute zu üben? Soll meine Mutter zur Bewegungstherapie? Wie oft zum
Friseur? Ich muss sämtliche Rechnungen bezahlen, Heimkosten, Krankenkasse,
Medikamente, Pflegemittel. Ich telefoniere mit der Bank, bei der meine Mutter
ihr Konto hat, mit Versicherungen, mit der Pflegekasse. Ich schreibe Briefe ans
Amtsgericht und jedes Jahr im Frühjahr einen Rechenschaftsbericht; das Gericht
will sehen, dass meine Mutter in guten Händen ist. Ich besorge medizinische
Atteste, hole Tabletten aus der Apotheke, ich gehe mit meiner Mutter zum
Zahnarzt, zum Urologen, zur Neurologin. Ich spreche mit allen Leuten, die mit
meiner Mutter zu tun haben. Und oft, sehr oft, schiebe ich den Rollstuhl über
den holprigen Gehweg. So ein Rollstuhl kann verdammt schwer sein.

Das Pflegeheim liegt am
Stadtrand. Zwischen Plattenbauten, einer Flüchtlingsunterkunft und viel Wiese
steht das dreistöckige Haus, es gibt einen Garten und einen Fischteich.
Mittlerweile kenne ich jeden Zentimeter des Rasens, ich weiß, welche Blumen der
Gärtner im Frühjahr in welche Rabatte pflanzt, und gebe den Fischen im Teich
leise Namen. Wenn ich meine Mutter um den Teich schiebe, mit ihr Kaffee trinke
oder vor Sprechzimmern in Arztpraxen und Krankenhäusern darauf warte, dass ihr
Name aufgerufen wird, denke ich daran, was ich eigentlich tun wollte in diesen
Stunden, tun müsste. Das Interview mit der interessanten alten Dame abtippen,
den schwierigen Text über den Umgang von Frauen mit Geld aufschreiben, über den
Kommentar zu den Ernährungsgewohnheiten der Deutschen nachdenken. Ich bin voll
berufstätig, seit einigen Monaten auch noch freischaffend.

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