/Heimat: Der Planet rebelliert. Der Boden unter unseren Füßen schwindet

Heimat: Der Planet rebelliert. Der Boden unter unseren Füßen schwindet

Im Französischen gibt es keine Entsprechung zum Wort “Heimat”, das in
Deutschland immer wieder für Diskussionen sorgt. Mich erinnert dieser Ausdruck unweigerlich an
Edgar Reitz’ Filmchronik Heimat, die mich überwältigt hat. Während ich als guter
kleiner Nachkriegsfranzose nur eine abstrakte und ziemlich polemische Vorstellung von
Deutschland mit mir herumtrug, brachte diese Filmreihe mir das Land nahe und erfüllte es mit
Leben.

In “Heimat” steckt für mich daher eine Medizin, die so stark ist, dass sie einem Fremden durch ein Kunstwerk das Gefühl vermitteln kann, einem bis dahin fernen Land anzugehören, ihm fest verbunden zu sein, seinen Nachbarn und seinen Nächsten in ihm zu erkennen. In meiner Fantasie saß ich immer wieder irgendwo in Deutschland in einem Zug und unterhielt mich mit Maria über unser Leben in Schabbach oder tauschte mit Paul oder Eduard Kindheitserinnerungen an den Hunsrück aus. “Heimat” hat für mich nichts, was zur Identität verpflichtet oder Blutsbande erfordert: Sie ist vielmehr ein Vermittler, der es erlaubt, von Neuem, existenziell, für einen selbst oder für die anderen zu erfassen, was es heißt, einem konkreten Ort anzugehören.

Wenn die Frage nach der Heimat überall, nicht nur in Deutschland, wieder zurückkehrt, dann offensichtlich deshalb, weil wir alle, aus welchem Land wir auch stammen, eine allgemeine Krise des Verlusts unseres Selbst und unseres Grund und Bodens erleben. Es ist dieses Gefühl der Verlassenheit, das der Psychiater Glenn Albrecht auf den Namen
Solastalgie
getauft hat. Die Nostalgie ist ein universelles und altersloses Gefühl, das uns angesichts der Erinnerung an eine entschwundene Vergangenheit zum Lachen oder zum Weinen bringt. Um es aber mit dem witzigen Titel von Simone Signorets Autobiografie zu sagen:
Die Nostalgie ist auch nicht mehr das, was sie mal war. Es ist nicht mehr eine für immer verlorene Vergangenheit, die uns vor Elend zum Weinen bringt, sondern der Erdboden, der vor unseren Augen verschwindet, was uns nach und nach unserer Existenzgrundlagen beraubt.
Solastalgie
heißt, Heimweh zu haben, ohne ausgewandert zu sein, also Heimweh daheim. Dies ist der radikalste Effekt der neuen klimatischen Verhältnisse: Die Klimakrise, das allgemeine Artensterben, das Sterilwerden der Landschaften machen uns verrückt.

Man versteht meines Erachtens die Bedeutung nicht, die der Migrationsthematik beigemessen wird, wenn man außer Acht lässt, dass dieses Gefühl eines Bodenverlusts zu einem allgemeinen geworden ist. Menschen, die sicheren Boden unter den Füßen haben, waren immer dazu fähig, andere, die durch Kriege, Hungersnöte oder Umweltkatastrophen von ihrem Land vertrieben wurden, bei sich aufzunehmen. Die gesamte europäische Migrationsgeschichte zeigt dies deutlich genug. Heute aber versuchen sich Völker, die ihres Erdbodens beraubt sind, bei Menschen niederzulassen, die sich selbst ihrer Erde beraubt fühlen, ohne dass sie sich von zu Hause wegbewegt hätten. Als sei die Migrationskrise universell geworden und brächte die Migranten von außerhalb mit den Migranten im Inneren in Konflikt: jene, die ihr Land verlassen müssen, mit jenen, die ihr Land, wenn man so will, verlassen hat.

Tragisch wird diese universelle Krise dadurch, dass die beiden traditionellen Lösungen, wie alle Beobachter einräumen, nichts mehr lösen.

Die erste, die man “globalistisch” nennen könnte, besteht darin, die Bürger davon zu überzeugen, dass sie unverdrossen nach vorn schauen und den Blick fest auf den mehr oder weniger strahlenden Horizont gerichtet halten sollen, der es ihnen ermöglicht, ihre alten Bindungen zu vergessen, mit ihrem provinziellen Geist zu brechen und am großen Mahlstrom der Globalisierung teilzuhaben. Damit man aber “Weltbürger” sein kann, muss es eine funktionierende Welt geben, die den Wohlstand derjenigen sicherstellt, die sich ihr widmen. Die planetarische Krise macht es jedoch unmöglich, noch an die Existenz einer Welt zu glauben, die als eine solche Ressource dienen und den Massen auf dem Marsch in Richtung Globalisierung ein Einkommen garantieren könnte. Die Welt, sprich der Planet, rebelliert. Er stellt die Existenzbedingungen dieser “Weltbürger” infrage, die sich unvermittelt “ohne Welt” wiederfinden und einen akuten Anfall von
Solastalgie
erleiden.

Die zweite Lösung ist uns wohlbekannt, weil sie gerade überall umgesetzt wird – von Brasilien bis Ungarn, den USA bis Polen, vom Großbritannien des Brexits bis zum heutigen Deutschland. Auch die “Neonationalisten” suchen einen Boden, der ihnen Schutz, Identität und Wohlstand garantiert. Aber es genügt nicht, sich nach und nach der Zwänge der Globalisierung zu entledigen, um sich wieder eines dauerhaften, unverbrüchlichen, glaubwürdigen und lebensfähigen Territoriums versichert zu sehen.

Die Vorstellungswelt der neonationalen Staaten, in die wir emigrieren sollen, jetzt, wo der Traum der Globalisierung seinen Glanz verloren hat, ist immer noch ärmer, weniger dicht besiedelt, unrealistischer als diejenige der solidarischen und integrierten Nationalstaaten, an deren Stelle sie sich setzen will. Das erklärt im Übrigen auch die Wut, mit der dieses Projekt der Einkapselung überall verteidigt wird. Sein einziger Inhalt ist die Identität – und deren einziger Inhalt wiederum die Feindseligkeit gegenüber den anderen, jenen Migranten nämlich, die die Blase der Illusionen, mit denen diese Identitäten sich erfunden haben, zum Platzen zu bringen drohen.

Wir müssen uns klarmachen: Es gibt kein politisches Angebot mehr, das uns einen Ausweg aus diesem Scheitern der Globalisten und der Neonationalisten wiese, ihrer Unfähigkeit, den Völkern, die sich verraten und verloren fühlen, einen Boden anzubieten. Die alten Formen des Liberalismus – im französischen oder englischen Sinn des Begriffs – sind wie die alten Formen der Sozialdemokratie zusammen mit den Parteien, die sie verkörperten, völlig entkräftet. Wo diese Parteien noch existieren, scheinen sie nicht in der Lage zu sein, in einer Sprache und mit einem existenziellen Ernst zu sprechen, die ausreichend wären, um die Fragen des Volkes und des Bodens von Neuem zu verbinden. Der Hauptgrund dafür ist, dass sie den “reaktionären” Charakter der Verknüpfung beider Begriffe fürchten.

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