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Alstermord: Wie hält sie das aus?

Es ist der erste Sonntag in den Herbstferien, und einen schöneren Sonntag
könne man sich nicht vorstellen, sagt sie. Sie stehen auf und machen Musik, zwei, drei Stunden
lang im Wohnzimmer. Sie singt, ihr Lebensgefährte am Klavier. Die kleine Tochter rasselt mit
afrikanischen Rasseln, und ihr Sohn, der Sechzehnjährige, singt auch. Das
Hallelujah
von Leonard Cohen, später setzt er sich selbst ans Klavier, Chopin, die
Mondscheinsonate.
Sie vergessen die Zeit, wie häufig in den vergangenen Jahren. Am
Nachmittag kommt seine Freundin vorbei, sie ziehen die Tür seines Zimmers zu, die anderen drei
machen Pizza. Nach dem Essen geht der Sohn mit der Freundin raus, ins Kino wollen sie,
Bridget Jones,
der dritte Teil. Es wird ruhiger in der Wohnung, sie setzt sich aufs
Sofa, liest, es wird dunkel, es wird spät, sie wundert sich, noch nichts gehört von ihm, sie
wird unruhig. Das passt nicht zu ihm, er bleibt nicht so lange weg, und wenn, meldet er sich.
Eine Nachricht auf WhatsApp, sie kann sehen, dass sie nicht ankommt. Eine SMS hinterher:
Victor, was ist los, ich mach mir jetzt wirklich Sorgen! Victor meldet sich nicht. Sie fragt
ihren Lebensgefährten, ob sie hysterisch sei, wenn sie die Polizei anrufe. Da klingelt es an
der Tür. Sie sieht, wie ihr Lebensgefährte in der Küche versteinert stehen bleibt, geht zur
Tür, nimmt den Hörer der Sprechanlage, eine Stimme: Hier ist die Polizei. Sie drückt auf den
Knopf, öffnet die Wohnungstür, geht ans Geländer, vierter Stock, schaut runter, sechs
Menschen, drei oder vier von ihnen tragen gelbe Westen. Sie kann sich nicht erinnern, was sie
in dem Moment gemacht hat, alles weg. Aber ihr Lebensgefährte sagt: Sie habe geschrien,
unfassbar geschrien.

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