/Joachim Kühn: “Perfektion ist der Killer der Musik”

Joachim Kühn: “Perfektion ist der Killer der Musik”

Schon seit Jahren gibt das Faxgerät keinen Laut mehr von sich. Eines Vormittags jedoch erwacht es plötzlich wieder zum Leben. Zwei Blätter, einige Tage nach dem Interviewtermin, der Absender steht rechts oben: “Joachim Kühn, Ibiza-Baleares”. Es sei ihm gerade noch was eingefallen, schreibt Kühn, der weder E-Mail noch SMS oder WhatsApp benutzt. “Ornettes Geburtstag 9. März. Bachs Geburtstag 21. März. Mein Geburtstag 15. März. Bin von jedem nur sechs Tage entfernt. Ein schöner Zufall, von zwei Heroes ‘gesandwicht’ zu sein!”

Nun wird der deutsche Jazzpianist Joachim Kühn also 75 Jahre alt und geht mit einem Projekt an die Öffentlichkeit, das man als eines der wichtigsten seiner Karriere bezeichnen kann. “Ich wollte das unbedingt”, sagt er und meint damit: Ornette Coleman, den Erfinder des Terminus “Freejazz” vom Image des ewigen Kaputtspielers zu emanzipieren. Seit ihrer Zusammenarbeit von 1995 bis 2000 besitzt Kühn eine Reihe von Kompositionen, die ein neues Bild des 2015 verstorbenen US-amerikanischen Altsaxofonisten zeichnen. Für das jetzt erschienene Album “Melodic Ornette Coleman” (ACT/edel) interpretierte Kühn unveröffentlichte Stücke, Balladen und melancholische Klangbilder aus der Feder seines ehemaligen Partners – allein am Flügel. Eine emotionale, ungewöhnliche und erkenntnisreiche Retrospektive.

ZEIT ONLINE: Joachim Kühn und Ornette Coleman – wie dürfen wir uns diese Beziehung vorstellen?

Joachim Kühn: “Freundschaft” wäre vielleicht das falsche Wort. Bei Amerikanern weiß man nie so genau, was sie unter diesem Begriff verstehen. Aber ich kann sagen, dass wir uns menschlich und musikalisch absolut auf einer Wellenlänge befanden. Ornette ließ mich regelmäßig aus Ibiza einfliegen, mietete mir einen Flügel und zeigte sich generell extrem großzügig. Während unserer fünf gemeinsamen Jahre habe ich ihn als wunderbaren, warmherzigen Menschen kennengelernt. Er erzählte mir viel aus seinem Leben, wir wohnten für zwei Wochen sogar zusammen im New Yorker Stadtteil Tribeca, als seine deutsche Freundin gerade sein Appartement renovierte. Das bringt einen unweigerlich näher.

ZEIT ONLINE: Wie sahen Ihre gemeinsamen Tage aus?

Kühn: Wir fuhren jeden Morgen nach dem Frühstück ins Studio, um miteinander zu spielen, bis zu 14 Stunden am Tag, nahezu ohne Pause. Danach fuhren wir mit den Bändern wieder zurück und hörten, was wir gerade gemeinsam aufgenommen hatten. Und wir lächelten dabei immer an denselben Stellen.

ZEIT ONLINE: Wie war der Kontakt überhaupt zustande gekommen?

Kühn: Meine Managerin hatte Ornette Coleman in Paris kennengelernt, sie freundeten sich an. Sie zeigte ihm eine Platte unseres Trios mit Daniel Humair und Jean-François Jenny-Clark, er stutzte und fragte, wer der Pianist sei. “Mit dem solltest du spielen”, sagte sie. Bis dahin hatte er kaum mit Pianisten gespielt. Kurze Zeit später standen wir zum ersten Mal in der riesigen Arena in Verona für ein Duokonzert auf der Bühne. Das war der Anfang. Ich lud ihn 1997 nach Leipzig ein, wo wir Colors – Live From Leipzig einspielten. Unsere Liaison dauerte fünf Jahre.

ZEIT ONLINE: Titel wie Lost Thoughts, Tears That Cry, Hidden Knowledge stammen aus dieser Phase, aber sie sind kaum bekannt geworden.

Kühn: Ornette hatte ein ehrgeiziges, aberwitziges Ziel: für jedes Konzert zehn neue Stücke zu schreiben. Wenn wir in New York zusammen probten, forderte er mich stets auf, die “cards” hinzuzufügen – so nannte er die Akkorde, aber auch die Melodielinien. In dieser Zeit war ich unmittelbar in seinen Kompositionsprozess eingebunden. Ornettes Notenschrift konnte kein normaler Musiker lesen, aber ich wusste genau, wie er tickt, weil ich schon in jungen Jahren zu Hause in Leipzig alle seine Platten am Klavier begleitet hatte. Für mich war das die perfekte Übungsstunde, weil er ja nie einen Pianisten dabeihatte. Also übernahm ich diesen Part, ohne dass er es wusste!

ZEIT ONLINE: All ihre gemeinsamen Stücke wurden nur einmal aufgeführt?

Kühn: Ja, nach den Konzerten durften sie kein zweites Mal ins Repertoire. Einmal gespielt – schon verbraucht, weg damit! Ornette hasste es, Standards zu spielen und noch viel mehr, welche zu komponieren. Er nannte sie verächtlich “Broadway songs”. Alles musste bei ihm neu sein, ein Resultat des Moments, in dem wir gerade leben. Ich habe jede Sekunde unserer gemeinsamen Momente auf Band. Außerdem haben wir 16 Konzerte gespielt, mal im Duo, mal im Quartett. Insgesamt habe ich etwa 500 Stunden Musik zu Hause. Darüber hinaus gab er mir insgesamt 170 Originalkompositionen in seiner Handschrift. Ein unglaublicher Schatz!

ZEIT ONLINE: Wann wird dieser Nachlass denn veröffentlicht?

Kühn: Dazu wird es höchstwahrscheinlich nicht kommen. Die Rechte liegen bei seinem Sohn Denardo, und der hat das wahrscheinlich vergessen. Die Stücke werfen ein völlig neues Licht auf den genialen Komponisten Ornette Coleman: Er war nicht nur im Freejazz zu Hause, sondern fühlte sich auch in farbenfrohen, bluesgetränkten Melodien wohl.

ZEIT ONLINE: Angesichts der Materialfülle – wie haben Sie die Stücke ausgewählt, die nun auf Melodic Ornette Coleman erschienen sind?

Kühn: Ich bin bei den Takes hängen geblieben, die aus meiner Sicht am besten für Piano solo geeignet waren. Die Idee kam mir am Neujahrstag 2018. In meinem Haus gibt es ein Musikzimmer mit einem Flügel, und ich habe mich gleich hingesetzt, vor allem die langsameren Sachen probiert und eine Dreiviertelstunde lang aufgenommen. Dabei wollte ich nur wissen: Wie klingt das, wenn ich es vom Blatt spiele? Dann im Februar kamen noch weitere Titel dazu, andere habe ich noch einmal neu interpretiert. Aber da hatte ich eher einen schlechten Tag erwischt. Vier Wochen später dann der dritte Versuch, ein paar Veränderungen, an den Voicings ein bisschen herumprobiert. Es dauerte knapp eine Stunde, und ich hatte alles im Kasten. Eine von Ornettes eisernen Regeln lautete: Perfektion ist der Killer der Musik. Jazz in progress – das traf für ihn zu und gilt auch für mich.

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