/“Herkunft”: Die Deutschen überholen

“Herkunft”: Die Deutschen überholen

Wenn es sie gibt, die goldene Generation der deutschen Gegenwartsliteratur
mit Migrationshintergrund, dann ist Saša Stanišić ihr Libero. Denn er ist ein Sprachspieler,
voll kindlicher Freude darüber, was seine Sätze alles können: kalauern, rühren, reflektieren
und zum Lachen bringen. Mit dieser Sprache kann Stanišić die jugoslawische Tito-Welt, in der
er seine Kindheit verbrachte, ebenso heraufbeschwören wie das Deutschland der Nullerjahre in
einem brandenburgischen Dorf, als dessen zärtlich-ironischer Ethnologe er sich in seinem Roman
Vor dem Fest
erwiesen hat.

Saša Stanišić wurde 1978 in Visegrád geboren. Dass man einmal von ihm sagen würde, er stamme aus Bosnien, wurde ihm nicht an der Wiege gesungen: Er kam als Jugoslawe zur Welt. Als der Vielvölkerstaat auseinanderbrach, gelang der Familie die Flucht nach Deutschland. Stanišićs neues Buch, eine autobiografische Selbstbefragung, heißt
Herkunft.
Herkunft ist immer ein Konstrukt, aber diese Einsicht allein hilft noch nicht gegen den “Identitätsstress”.

Einmal, 2009, macht Saša Stanišić einen Ausflug nach Oskorusa, einem Bergdorf in Bosnien, in dem sein Großvater aufwuchs. Dort trifft er auf einen alten Verwandten, der in Herkunftsfragen von Haarspaltereien (“komplexe Frage!”) nicht viel hält und ihm bündig erklärt: “Von hier. Du kommst von hier.”

Doch was meint “von hier”? Stanišićs Vater war ein Serbe in Bosnien, Stanišićs Mutter eine Muslimin – nur dass sie mit Religion nichts am Hut hatte: “Ich dachte”, schreibt der Sohn, “eine Zeit lang, ohne Witz, Moslem sei man, weil man Schweinefleisch nicht aß – einfach also jemand mit einer speziellen Diät.” Doch als aus einer Diät-Frage wieder eine Religionsfrage geworden ist, muss die Familie fliehen.

Sie landet 1992 in Heidelberg. Was es heißt, als Geflüchteter in einem fremden Land anzukommen, welche Demütigungen in Kauf zu nehmen sind, welche Schamgefühle, davon erzählt
Herkunft
in seinen besten Passagen. Der Jugendliche muss sich Strategien gegen die Erfahrungen der Deklassierung zurechtlegen, aber am Ende lässt sich seine Frohnatur nicht kleinkriegen. Der Wille zum Positiven ist so stark, dass sich die Welt fügt.

Am 24. August 1992 zünden Neonazis in Rostock ein Wohnheim an, in dem vietnamesische Vertragsarbeiter leben. Davon bekommen die Stanišićs nichts mit, sie sind gerade erst in Heidelberg angekommen. Aber einige Monate später bringt der Lehrer Zeitungsausschnitte über die Pogrome mit in den Sprachunterricht, den Saša besucht: “Wir lasen stumm und blieben stumm nach dem Lesen. Sonst meldete sich immer gleich jemand, weil etwas nicht begriffen worden war. Diesmal hatten das Wesentliche wohl alle begriffen. Diesmal waren wir gemeint.”

Andererseits wäre es angenehmer, nicht gemeint zu sein. Und schon bringt die Angst ihre eigene Logik hervor: “Was haben wir Jugos mit Vietnamesen gemein?”, fragt sich der junge Mann. “Und schon war ich dabei, in dem bisschen Wissen über Vietnam (…) nach dem zu suchen, was an dem Land und seinen Leuten hassenswert sein könnte. Und der eigentliche Horror: Ich wägte ab, worin ich als Jugoslawe anders, worin besser sei, um mich gewissermaßen zu versichern, dass uns, den Guten, nichts Derartiges widerfahren könne.”

Während die Eltern sich in der Fremde weit unter ihrer beruflichen Qualifikation abschuften, möchte Saša alles sein, nur kein Opfer. Deshalb gibt er sich lieber als Slowene aus denn als Bosnier, da denken die Leute an Skifahrer, nicht an Kriegsopfer. Er sagt dann in solchen Momenten, er vermisse die Alpen, weil es in Deutschland immer gut ankommt, wenn man sagt, man vermisse die Alpen.

Es öffnen sich viele Türen. Der Deutschlehrer erwischt ihn, wie er heimlich auf Serbokroatisch Gedichte schreibt, und fordert ihn auf, es mal auf Deutsch zu versuchen. Doch als ein Freund in den Odenwald zieht, besucht er ihn nur mit mulmigem Gefühl – “als Ausländer” verlasse man Heidelberg nur ungern, “schon gar nicht gern dorthin, wo es mehr Fachwerkhäuser aus dem 16. Jahrhundert gab als Hochhäuser”. Für den Flüchtling sind die Fachwerkhäuser keine Kulisse der Geborgenheit, sondern eine bedrohliche Fassade, vor der das eigene Fremdsein besonders auffällt.

Aber dann entdeckt Stanišić die deutsche Romantik und überholt die Deutschen gewissermaßen, indem er das Heidelberger Schloss, Hölderlin und Eichendorff umarmt und Letzteren besser zum Singen bringt als jede Kartoffel. Es ist, als hätte Heidelberg nur darauf gewartet, von diesem Jungdichter aus Bosnien angesungen zu werden: “In einer lauen Sommernacht in meinem zweiten deutschen Jahr habe ich dort mein Herz verloren an ein Mädchen mit rotem Haar, das mir versucht hat beizubringen, das Verb stehe in deutschen Relativsätzen immer am Satzende, was ich schon längst wusste, aber sie erklärte so schön.”

Man könnte sagen: Sein Wille zu Eichendorff ist stärker als die hässliche Gegenwart, die Stanišić gleichwohl sehr genau erfasst. Diese Gegenstrebigkeit fehlt der Rahmenerzählung, in der die Großmutter in Bosnien an Demenz leidet und ihren Enkel kaum mehr wiedererkennt, während dieser nach seinen eigenen Erinnerungen sucht.
Herkunft
ist dort brillant, wo es von der Ankunft erzählt.

Saša Stanišić: Herkunft
Luchterhand, München 2019; 360 S., 22,– €, als E-Book 17,99 €

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