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Alexandria Ocasio-Cortez: Im Zug der Zeit

Ihre Chefin, die wohl berühmteste Abgeordnete Amerikas, die 29-jährige
Sozialistin Alexandria Ocasio-Cortez, ist schon in ihrem Wahlbezirk in New York angekommen,
als Corbin Trent und Zack Exley in Washington noch auf den Zug warten.

Corbin Trent, 38, ist der Pressesprecher von Ocasio. Zack Exley, 49, ist ihr politischer Berater. Beide sind seit dem ersten Tag ihres rasanten Aufstiegs dabei – der mehr als außergewöhnlich ist, denn es als Sozialistin in Amerika zu schaffen, dem Musterland des Kapitalismus, gleicht einem Wunder. Exley und Trent haben die charismatische Ocasio als Kandidatin entdeckt. Sie haben ihr politisches Programm geschrieben. Und sie haben ihren New Yorker Überraschungssieg gegen einen etablierten demokratischen Abgeordneten in die Wege geleitet.

Während Exley und Trent in Washington in den Zug steigen, versammeln sich in Brooklyn 13.000 Menschen, um den Sozialisten Bernie Sanders zum Auftakt seiner zweiten Präsidentschaftskampagne zu erleben. Sanders fordert höhere Steuern für die Reichen, kostenlose Bildung, eine staatliche Krankenversicherung – wie schon in seinem letzten Wahlkampf gegen Hillary Clinton. Er setzt auf eher klassische europäische Umverteilungspolitik. Auf Sozialdemokratie. Ocasio reicht das nicht mehr. Sie will die drohende Klimakatastrophe zum Anlass nehmen, um massiv staatlich in die Industrie einzugreifen. Vor allem in jene Bereiche, die für den Kampf gegen die Erderwärmung wichtig sind. Dabei sollen gleichzeitig linke sozialpolitische Ziele wie eine staatliche Jobgarantie und mehr Arbeitermitbestimmung umgesetzt werden. Sie nennt das den “Green New Deal”.

Die jungen Linken, die Ocasio-Anhänger, sind davon begeistert. Und die Demokratische Partei kann das nicht einfach ignorieren. Auch wenn viele in der Führung große Zweifel daran haben, dass man mit einem solchen Programm in Amerika eine Präsidentschaftswahl gewinnen kann. Doch gegen Trump brauchen sie jede Stimme. Und die jungen Wähler sind ein riesiger Block. Weshalb fast jeder der demokratischen Präsidentschaftskandidaten den Green New Deal unterstützt. Der Kampf um die Seele der Partei hat begonnen.

In den nächsten dreieinhalb Stunden Bahnfahrt werden Trent und Exley über ihre neue Linkspolitik sprechen. Wie viel Sozialdemokratie steckt darin, wie viel Sozialismus? Warum glauben sie, dass die Demokraten damit eine Chance gegen Trump haben? Fast wie in einem Werbefilm ziehen zur Illustration draußen die heruntergekommenen Häuser im armen Baltimore vorbei, die chemisch verseuchten Gebiete New Jerseys, und bevor wir durch den dringend reparaturbedürftigen Tunnel unter dem Hudson nach New York einfahren, wird man schon von Weitem das neue Luxushochhaus in den Hudson Yards sehen (die Einzimmerwohnung für 5200 Dollar Miete). Das Lieblingswort von Trent und Exley lautet: Revolution.

Corbin Trent rollt sich in seinem Fenstersitz zusammen wie ein Igel. Sein Lockenkopf verschwindet im Holzfällerhemd, er zieht heimlich an seiner E-Zigarette. Rauchen ist im Zug natürlich nicht erlaubt, aber ein bisschen Rock ’n’ Roll muss in der Revolution schon erlaubt sein. Der Zug kriecht langsam dahin. “Wir fahren so schnell, dass man kaum noch etwas sieht”, sagt Trent trocken. Dass Amerika es nicht schafft, ein Hochgeschwindigkeits-Zugsystem zu bauen, ist auch so eine der Sachen, die die Revolution ändern muss.

Trent ist so etwas wie eine amerikanische Version des jungen Joschka Fischer. Er ist der Straßenkämpfer-Typ, der Junge aus dem Süden, aus Tennessee, der die Schule abgebrochen hat und die Krise des Kapitalismus nicht aus Büchern kennt, sondern selbst erlebt hat. Als sein Großvater starb, übernahm er den kleinen Möbelzuliefererbetrieb der Familie. Nach einer weiteren Liberalisierung des internationalen Handels wanderte die Möbelproduktion jedoch größtenteils ins billigere Ausland ab, die Aufträge für die Firma der Trents brachen ein. Nach über 30 Jahren musste Trent den Betrieb dichtmachen.

Irgendetwas läuft falsch in Amerika, dachte er damals, erzählt er. Trent ist ein höflicher Mensch, der viele Sätze mit “Yes, Ma’am” beendet. Während die Städte boomten, starb das Land. Die kleinen Firmen gingen pleite, und die großen wurden immer größer. Er begann linke Seiten im Netz zu lesen, wurde immer wütender, für die Revolution verließ er schließlich seine Familie in Tennessee. Vor einigen Wochen war er nun dabei, als seine Chefin zur stärksten Kraft hinter der Vertreibung Amazons aus New York wurde. Der Internet-Handelskonzern hatte sein zweites Hauptquartier im Nachbardistrikt von Ocasios Wahlkreis eröffnen wollen. Für 25.000 Arbeitsplätze wollte New York dem Unternehmen drei Milliarden Dollar in Form von Steuererleichterungen und Zuschüssen geben. Warum muss eines der reichsten Unternehmen der Welt Steuererleichterungen erhalten?, fragte Ocasio und traf damit einen Nerv.

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