/Wandern: Wo bitte geht’s hier zum Strand?

Wandern: Wo bitte geht’s hier zum Strand?

Wo ist er denn nun, der versprochene Gletscher? Diese Frage
bekommt Ron Kapteyn immer öfter zu hören. Von Touristen, die an der Kaiser-Franz-Josefs-Höhe
in die historische Gletscherbahn steigen, nach unten fahren, dort aber nicht
ewiges Eis, sondern Geröll unter den Wanderschuhen – oder eben Flipflops –
haben. Wenn sie dann ihrer Enttäuschung Luft machen, antwortet Ron,
ausgebildeter Bergwanderführer und Nationalpark-Ranger, dass die Wanderer etwas
spät dran seien: “1967 war er noch da!” Seit einigen Jahren schrumpft die
Pasterze jährlich um rund 50 Meter, in 30 Jahren könnte der größte
Gletscher Österreichs ganz verschwunden sein.

Vielleicht will sich ja der über dem Eisfluss thronende
Großglockner – höchster Gipfel des Landes – wegen solch trüber Aussichten an
diesem Septembertag nicht blicken lassen. Aber der 62-jährige Ron, seine Frau
Caroline und diese erste Etappe des Alpe-Adria-Trails haben gegen Regen und
fernen Donner so viel aufzubieten, dass am Ende des Tages jegliche Enttäuschung
vergessen sein wird. “Ich war 1962 zum ersten Mal hier und sofort vom Bergvirus
infiziert. Damals kamen die ersten niederländischen Touristen, Kärnten war
wegen der lockeren, freundlichen Leute und des Wetters beliebt. Bei uns Limburgern
sowieso, weil wir auch aus einem Dreiländereck kommen”, verrät Ron. Wenn er im
Dialekt des Mölltals die Regionen des Alpe-Adria-Trails aufzählt, Kärnten,
Slowenien und Friaul-Julisch Venetien, ist manchmal noch seine Muttersprache
Niederländisch herauszuhören. Seit 2005 lebt er nun hier, aber das Ehepaar hat
seine ursprüngliche Staatsbürgerschaft behalten. In solchen Kategorien denken
beide ohnehin nicht: “Wir fühlen uns in erster Linie als Weltbürger”, meint Ron
dazu. Gattin Caroline hat ebenfalls die Bergwanderführer-Prüfung abgelegt, die
beiden sind die einzigen nicht-österreichischen Nationalpark-Mitarbeiter. “Bei
der Überreichung meines Diploms hat Ron die meisten Komplimente bekommen, weil
er mich so gut ausgebildet hat”, sagt sie lachend. “Wenn wir mit einer Gruppe
unterwegs sind, bin ich meistens die rote Laterne.”

Dieser Artikel stammt aus “ADAC Reisemagazin“ Nr. 169

Auf dieser Etappe ist die Gefahr, verloren zu gehen, relativ
gering. Zu gut ist die Ausschilderung, zu spannend sind die Erklärungen der
Guides. Etwa zu den vier Klimazonen, die man auf den gut 1.000 Metern hinunter
nach Heiligenblut durchquert, die eigentlich den 4.000 Kilometern zwischen
Salzburg und Spitzbergen entsprechen. Oder zur Botanik, von der Kraut­weide,
dem kleinsten Baum der Welt, über Flechten, die in einem Jahr nur 0,1 Millimeter
wachsen, bis zum tiefblau blühenden, hochgiftigen Eisenhut. “Vor ein paar Jahren
hat eine junge Frau, die abnehmen wollte, gehört, die Pflanze wirke appetitzügelnd.
Sie hat sich einen Tee daraus aufgebrüht, innerhalb weniger Stunden war sie
tot.” Diese Geschichte erzählt Ron an der Bricciuskapelle. Hierher pilgern
Gläubige, um zu dem Heiligen zu beten und um sich mit Quellwasser das Gesicht
zu benetzen – es soll schließlich gegen Augenleiden helfen.

37 Etappen, 37 Tage vom Großglockner bis ins italienische
Muggia, das ist den meisten Wanderern dann doch zu viel. Sie suchen sich
besonders attraktive Passagen des Trails aus und lassen sich vom Buchungscenter
die Transfers sowie die Übernachtungen organisieren. Etwa auf der
Alexanderhütte in fast 1800 Metern Höhe. Auch für Wanderer, die erst in der
Dunkelheit eintreffen, haben die Hüttenwirte Uschi und Franz noch ein
herzliches Willkommen parat, deftige Fleisch- und Kasnudeln – und den
vielleicht schönsten Schlafplatz Kärntens. Das zeigt sich am nächsten Morgen,
als der Wanderer in der Almrauschsuite aufwacht und, noch ohne den Kopf vom
Kissen zu heben, den Millstätter See unter sich ausgebreitet liegen sieht.
Franz hat die lang vernachlässigte Alpe auf Vordermann gebracht, überwucherte
Weiden gemäht und die alte Kulturlandschaft wiederhergestellt: “Nach dem Mähen
sind Samen aufgegangen, die jahrelang im Boden geschlummert hatten. Die
Artenvielfalt ist explodiert, wir haben sogar einen Preis für die schönste
Blumenwiese Österreichs bekommen.” Es fällt schwer, sich von diesem Ort zu
lösen, wo Sennerin Rebekka in aller Frühe Schnittlauchfrischkäse, Almmozzarella
und Bergkäse macht, der direkt auf dem Frühstücksbüfett landet. Sie hat viel zu
tun und verbreitet dabei auch noch gute Laune, wenn sie von sich sagt: “Jeden
Tag muss ich vier bis fünf Stunden putzen: den Käse, ich bin die Putzfrau des
Käses!”

Durch das Fenster ist eine Herde prächtiger Rinder zu sehen,
die vom Stall auf die Weide zieht. In dieselbe Richtung, in der die heutige
Etappe Nummer 13 verläuft. Also nichts wie hinterher, schließlich sind fast 23
Kilometer zurückzulegen, es lockt die Aussicht auf die gerundeten Nockberge und
auf die lang gestreckten Kärntner Seen. Leider macht der Wettergott nicht mit
und lässt dichte Regenwolken herabsinken. Das wiederum lenkt den Blick auf den
Weg. Da liegen fingerspitzenkleine Granatsteine und zeugen von der größten
alpinen Lagerstätte des Minerals, das als “Feuerstein der Liebe” gilt. Auf dem
Granattor ist seine Geschichte in großen Lettern wiedergegeben, Tonnen des
Gesteins füllen das 2009 konstruierte Portal, dessen Architektur an antike
römi­sche und griechische Vorbilder erinnert. Ein Beispiel dafür, dass auf dem
Trail trotz aller sportlichen Herausforderungen Kultur und Genuss im
Vordergrund stehen, das sogenannte Wandern im Garten Eden. Und manchmal kommt
die Kultur auch gerade recht, wenn wieder ein Regenguss niedergeht und die Tür
der Wallfahrtskirche St. Maria zu Matzelsdorf offensteht. Leuchtend bunte
Malereien schmücken ihre Wände, Kanzel und Decke, hierher pilgerte man schon im
17. Jahrhundert, um gegen die Pest anzubeten.

Der Millstätter See ist erreicht, in Döbriach wartet das
trockene, vorgeheizte Taxi, das neun Etappen zu Fuß erspart und die Grenze nach
Slowenien überquert. Es ist ein fließender Übergang, leben doch im Südosten
Kärntens mehrere Tausend Menschen, deren Muttersprache Slowenisch ist. Die
letzte Silbe in geografischen Namen wie Zagutnig, Gatternig oder Kaponig verrät
dort die Zugehörigkeit zum slawischen Sprachraum. Allerdings sind die Berge in
Slowenien von einem ganz ­anderen Kaliber. Edvin Kravanja kennt sie bestens,
allein den Triglav, mit 2874 Metern höchster Gipfel des Landes und Kern des
nach ihm benannten Nationalparks, hat der drahtige Guide schon mehr als 30-mal
bestiegen. “Er ist technisch nicht besonders anspruchsvoll, man muss nur
wissen, wie man einen Klettersteig geht”, relativiert er seine sportlichen
Leistungen. In Kranjska Gora, Ziel für Wintersportler aus aller Welt und für
Österreicher und Italiener, die günstig tanken, essen und einkaufen wollen,
beginnt Etappe 23. Bald zeigen sich im Süden weitere schroffe ­Höhepunkte der
Julischen Alpen wie ­Razor, Prisojnik und Škrlatica, alle deutlich jenseits der
2500 Meter. Meist arbeitet Edvin im Infozentrum. Umso motivierter ist er daher
heute, den ganzen Tag draußen zu verbringen, den Gästen die bewegte und
teilweise tragische Geschichte dieser Region näherzubringen.

Hits: 13