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Kindesmissbrauch: Das Opfer seiner Mutter

Fünf Menschen wussten von seinem Geheimnis. Sie wussten, warum er sich im Frühstücksraum von Hotels oft zu Fremden an den Tisch setzte. Warum er ständig das kleine Holzherz in der Hosentasche trug und weshalb daheim immer ein Dire-Straits-Album im CD-Spieler lag. Er hatte es seiner Psychiaterin erzählt und seiner Ehefrau. Sein Bruder wusste Bescheid und seine Eltern, die hatten ihm das schließlich alles angetan.

An einem Tag vor fast sechs Jahren dann, im März 2013, setzt sich der Mann, der in diesem Text Georg* heißen soll, an seinen Esstisch im Wohnzimmer und erzählt seine Lebensgeschichte. “Dass ich das Opfer bin”, beginnt Georg, “ist eine Sache, die ich erst jetzt lerne.” Er korrigiert sich, sagt: “Es ist eigentlich so, dass ich mich selbst immer noch schuldig fühle.”

Georg filmt sich beim Erzählen mit seiner Videokamera, er wird sich die Aufnahmen später noch einmal ansehen, als Teil seiner Therapie. Er will wissen, wie er reagiert, wenn er Intimes und Unangenehmes erzählt, wenn er auf meine Fragen antwortet. Denn die sechste Person, der er von seinem Leben erzählt, vom Missbrauch durch die eigene Mutter, bin in diesem Moment ich, zum ersten Mal ein Fremder, ein Journalist. Vier mehrstündige Interviews, das erste aufgezeichnet im März 2013, das letzte im Januar 2019.

Georg hat beschlossen, seine Geschichte öffentlich zu machen.

Denn dass sich auch Frauen an Kindern vergehen, war lange Zeit ein weitgehend verborgenes Phänomen. Missbrauchsfälle mit Müttern als Täterinnen galten als schauderhafte Ausnahmen, grundsätzlich unvereinbar mit der Rolle der Mutter als Beschützerin. “Über missbrauchende Frauen wurde in Deutschland bislang wenig geforscht”, heißt es hierzu in einer Zusammenfassung des Bundesbeauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. “Es ist jedoch davon auszugehen, dass sexueller Missbrauch durch Frauen seltener entdeckt wird, weil solche Taten Frauen kaum zugetraut werden.” Inzwischen gehen manche Beratungsstellen für Missbrauchsopfer jedoch davon aus, dass bis zu 20 Prozent der Übergriffe auf Kinder durch Frauen begangen werden.

Dazu führt auch, dass es den Opfern von Missbrauch durch die eigene Mutter oder eine andere weibliche Bezugsperson auf besondere Weise schwerfällt, über das Erlebte zu sprechen, sich Hilfe zu holen. Denn in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von sexueller Gewalt fehlt es einerseits häufig an Vorstellungstellungskraft für weibliche Missbrauchsformen: erzwungener Oralverkehr, Penetration mit Gegenständen, sexualisiertes Pflege- und Beschützerverhalten. Hinzu kommt, dass weibliche Übergriffe als Verführung umgedeutet werden. Die Mikado-Studie, eine Forschungsarbeit von Psychologen und Medizinern im Dunkelfeld, also außerhalb polizeilicher Erkenntnisse, stellte im Jahr 2015 vor diesem Hintergrund fest: “Angebote für sexuell missbrauchte Jungen/Männer sind besonders wichtig: Betroffene Männer berichteten von ‘schwererem Missbrauch’, Frauen als Täterinnen, weniger sozialer Integration und ausgeprägten Belastungssymptomen, offenbarten sich gleichzeitig aber deutlich seltener, was ihnen hilfreiche Unterstützung erschwert.”

Auch Georg schwieg. Was würden denn die Leute sagen? “Ich habe das nicht erzählt, weil ich dachte, dass ich derjenige war, der schuld war, dass das passierte”, sagt er.

Die Gedanken und Erinnerungen zehren an seinen Kräften, darüber zu sprechen fällt ihm schwer, auch heute noch, mit Ende 50. Er wurde geschlagen, missbraucht und erniedrigt, von seiner Mutter, von seiner Großmutter, ein ganzes Kinderleben lang. Viele Jahre hatte er die Erlebnisse verdrängt, hatte es zumindest versucht. Dann kam die erste Depression, Jahrtausendwende, es kamen Tage und Monate, die ihn fast in den Suizid getrieben hätten. Seitdem ist er in psychiatrischer Behandlung.

“Das sind Narben, die bleiben bis ans Lebensende”, sagt Georg. Dass er heute darüber sprechen kann, ist ein Erfolg der Therapie. Dass er darüber öffentlich spricht, ist Ausdruck seiner Bitterkeit: Was nicht sein darf, das nicht sein kann, schrieb Georg in einer E-Mail. “Die Dunkelziffer des Missbrauchs ist auch bei Müttern höher, als man landläufig so denkt.”

Georg ist ein großer, stämmiger Mann, eigentlich kein Schwächling, wie er sagt, kräftiger Händedruck und sanftes Lächeln. Er lebt in einem Einfamilienhaus am Rand einer deutschen Großstadt, ist verheiratet und trägt einen Doktortitel, ein renommierter Wissenschaftler, einst hatte man ihn sogar eingeladen zur Nobelpreisverleihung in Oslo, erzählt er.

Georg führt ein normales, ein äußerst erfolgreiches Leben.

Aber wenn er von seiner Kindheit und Jugend spricht, von seiner Mutter, ist die Struktur, die sein sonstiges Reden und Handeln bestimmt, verschwunden. Er erinnert sich dann an ein Gefühl oder einen Geruch, in seinen Gedanken springt er weiter, erinnert sich an ein neues Detail, dann an noch eines. Bei unserem ersten Treffen hatte Georg einfach draufloserzählt. Beim zweiten Treffen hatte er dann einen Zettel mit Stichpunkten vorbereitet, bloß nichts vergessen, 16 Spiegelstriche mit 15 Unterpunkten, ich habe ein Foto davon.

Ich habe meine Eltern geliebt, ich habe vor allem meine Mutter abgöttisch geliebt. Ich habe alles gemacht, damit meine Mutter mir gegenüber wohlgesonnen ist.

Georg wächst in den Sechzigerjahren in einem winzigen Bauerndorf in den Bergen auf. Es war ein Ort, ganz weit hinter dem Mond, sagt Georg, im Winter eingeschneit und von der Umgebung abgeschnitten, im Sommer so heiß, dass die Felder verdorrten. “Und in diesem Dorf lebte meine Familie wiederum hinter dem Mond.”

Er ist das zweite von drei Kindern. In der Tradition der Familie hätte er ein Mädchen sein sollen. Seine Mutter gibt ihm die Schuld, das falsche Geschlecht zu haben, er bekommt einen Mädchennamen, wird auf den Vornamen der Großmutter getauft. Belegt ist das durch eine standesamtliche Urkunde, die, wie als Erinnerung an die Vergangenheit, auf der ersten Umschlagseite eines Fotoalbums klebt.

Georgs Mutter zwängt ihn in Strumpfhosen, lässt ihn dreimal am Tag die Treppe putzen und schlägt mit Kochlöffeln so lange auf seinen Kopf, bis die Holzstiele brechen. “Meine Mutter, lieb, das kenne ich nicht”, sagt Georg. “Ich kann mich an keine Situation erinnern, in der sie mich mal umarmt hätte.”

Als Junge leidet Georg unter Hodenhochstand und einer Vorhautverengung, er müsste operiert werden, doch die Eltern verweigern den Eingriff. Sie negieren seine Männlichkeit. Also behandelt sich Georg selbst. Immer wieder reißt die Haut an seinem Penis ein, blutet, verkrustet, reißt erneut ein. Seine Verletzungen entzünden sich, unter der Haut bilden sich Keime. Heute ist er unfruchtbar.

Georg sagt: “Ich habe meine Eltern geliebt, ich habe vor allem meine Mutter abgöttisch geliebt. Ich habe alles gemacht, damit meine Mutter mir gegenüber wohlgesonnen ist.”

Mit einer Psychiaterin gräbt Georg seit 18 Jahren nach den Details aus seiner Kindheit, zusammen entzerren sie ein graues Knäuel aus Erinnerungen, malen einzelne Momente wieder farbig in sein Gedächtnis. Über sein Erinnern davor sagt er: “Ich wusste: Da ist so ein Keller und da gibt es eine Tür. Aber es war eine Sache, die mit Scham behaftet war, deswegen bin ich da nicht weitergegangen.”

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