/Krank zur Arbeit: Nur weil man zur Arbeit kommt, ist man noch lange nicht gesund

Krank zur Arbeit: Nur weil man zur Arbeit kommt, ist man noch lange nicht gesund

“Und jetzt
macht sich die Göre ne Pulle Sekt auf”, schrieb eine Frau auf Twitter.
Sie sei von ihrem Chef belohnt worden, weil sie drei Jahre lang keinen “gelben
Schein” eingereicht hätte, also nicht krank gewesen sei. Dafür sei sie nun beschenkt worden. Mit einer dreitägigen Städtereise nach
Berlin, einem Amazon-Gutschein im Wert von 500 Euro und vier Euro mehr
Stundenlohn. Neidisch?
Ich nicht.

Denn was wir nicht wissen: Ob
diese Frau tatsächlich immer gesund war. Denn “gesund” oder lediglich “nicht
krank”, das ist – bezogen auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – nicht das Gleiche.
Belohnt wird schlicht die Präsenz im Büro – egal ob mit 39 Grad Fieber oder
topfit. Das ist nicht nur gefährlich, sondern auch ökonomisch dumm. Auch ohne Geschenkbox gehen rund zwei Drittel der Angestellten krank zur Arbeit. Ein Drittel ging eigenen Angaben zufolge sogar noch ins
Büro, wenn der Arzt davon abriet. Dieser sogenannte Präsentismus könnte steigen,
wenn immer mehr Arbeitgeber nun ein Bonusprogramm einführen für die bloße
Tatsache, dass jemand an seinem Schreibtisch sitzt oder hinter der Theke steht.

Kranke Kollegen stecken die anderen an

Dass das tatsächliche Praxis
ist, zeigen bekannte Unternehmen wie etwa Daimler, wo Gesundheit mit bis zu 200
Euro pro Jahr prämiert wird. Bei Amazon wird bei der Berechnung der Mitarbeiterboni neben der Leistung auch berücksichtigt, wie oft Angestellte gefehlt haben. Auch kleine Betriebe greifen auf diese Methoden
zurück
.
Im Internet gibt es Vorlagen für Arbeitgeber zum kostenlosen Download,
wie sie die Anwesenheitsprämie am besten einführen. Auf Websites von Anwältinnen
werden Tipps gegeben, was man dafür bei den Arbeitsverträgen beachten muss.

Dabei ärgere bestimmt nicht nur ich mich über diese
schniefenden, hustenden Kolleginnen, die schon morgens in der Konferenz, beim
Kaffee oder im Jour fixe auffällig still sind. Mit ihren verquollenen
Gesichtern sitzen sie da, den Bioingwertee dampfend vor sich stehend und auf
Nachfrage leise krächzend, dass sie ein bisschen krank seien, aber “nee, geht
schon”. Denn da ist ja diese Präsentation, die wirklich heute, vor zwölf Uhr,
fertig sein muss. Da ist das superwichtige Telefonat, der Besuch beim
Kunden, die E-Mails, das Meeting. Sie werfen Notfallmedizin ein, denn Ausfallen
ist etwas für Schwächlinge. Dass eine einzelne Person alle anderen anstecken
kann, darüber müsste sich jeder im Klaren sein. Allein: Das scheint weniger zu
zählen, als den Willen zu zeigen, auch halbtot noch Leistung zu erbringen. 

Dabei ist der wirtschaftliche
Schaden groß: Rund ein Zehntel des Bruttoinlandsproduktes gingen verloren durch
Menschen, die eigentlich zu krank zum Arbeiten seien, heißt es in einem Artikel
in der Fachzeitschrift ASU (Zeitschrift für medizinische Prävention) aus dem
Jahr 2016
.
Das liegt nicht nur daran, dass am Ende eventuell alle im Büro krank sind –
sondern auch schlicht an der Tatsache, dass angeschlagene Mitarbeiter weniger
leisten können und unkonzentriert sind. Wer sich nicht auskuriert, ist zudem oft
länger krank als diejenigen, die einfach mal drei Tage im Bett bleiben.

Krankheit sucht man sich nicht aus

All das geschieht nicht aus
bösem Willen. Gerade Berufseinsteigerinnen und Berufseinsteiger wollen
keinesfalls in den ersten Monaten ausfallen. Sie wollen sich beweisen und zeigen,
dass sie hart im Nehmen sind und die Arbeit über allem steht. Ein Problem sind
auch die vielen befristeten Arbeitsverträge in Deutschland: Wer zu oft fehlt,
den entfristet man möglicherweise weniger gern. Deshalb trauen sich
viele nicht, im Bett zu bleiben. Ja, man muss es so formulieren: Ein Ausfall
von mehr als drei Tagen gilt in manchen Branchen schon als fast irrsinniges
Wagnis.  

Wenn nun Arbeitgeber ihre
Leute dafür belohnen, auch mit 39 Grad Fieber zur Arbeit zu kommen, ignorieren sie
die Tatsache, dass Krankheit nichts ist, das wir uns aussuchen. Ein gutes
Immunsystem kann man sich mitunter antrainieren und durch gesunde Ernährung
stärken – aber nicht jede und nicht immer. Solang das aber angenommen wird,
wird Krankheit zum Synonym für Schwäche, fehlenden Ehrgeiz und Egoismus, denn
was nimmt sich die Sabine da raus, dass die schon wieder eine Magen-Darm-Grippe
hat, obwohl die vor zwei Monaten noch erkältet war. Typisch Sabine, die isst ja
auch immer beim Italiener in der Mittagspause und zwar KEINEN Salat! Dass Mara
aus der IT und Jürgen aus der Buchhaltung ebenfalls immer mit Sabine zum Sechs-Euro-Mittagstisch gehen und keinen Sport machen – scheißegal. Denn die sind
ja nicht krank, also machen sie was richtig und Sabine alles
falsch. 

Etwas zu belohnen, das wir
mitunter kaum beeinflussen können, ist fatal und wir fördern damit vor allem
eines: eine kranke Gesellschaft mit einer kranken Maxime. Leistung über Anwesenheit zu bemessen ist nicht sinnvoll – das weiß jeder, der schon einmal versucht
hat, eine schwere Erkältung mit möglichst großen Mengen Grippostad zu bezwingen:
kurzfristig erfolgreich, langfristig einfach ziemlich dumm.

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