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Tiertransporte: Jenseits der Schmerzgrenze

Von seiner Küche aus kann Jens Haveland Utopia sehen, auf einem Bildschirm
oben links neben dem Fenster. Utopia stakst in ihrer Box durchs Stroh. Munter wirkt sie und
recht schlank, das ungeübte Auge sieht ihr die Trächtigkeit nicht an. Bald schon kommt ihr
Nachwuchs. Haveland will da sein, wenn es so weit ist, deshalb beobachtet er Utopia auf seinem
Monitor, deshalb geht er vorerst nicht auf Reisen, das macht er immer so, die Kühe gehen
vor.

Jens Haveland ist Landwirt. Er und seine Frau führen einen Hof in Schleswig-Holstein, 320 Tiere, ein Großteil Milchkühe der Rasse Rotbunt, braun-weiß geschecktes Fell. Viele Kälber ziehen die Havelands selbst groß, auf dass auch sie zu ihrem Milchvieh werden, aber manche Rinder führen sie, wie es dann heißt: der Vermarktung zu. Den Landkreis verlassen dürfen nur Tiere, für die der Amtsveterinär ein sogenanntes Vorattest ausgestellt hat. Ist dies erledigt, tritt die Kuh ihre Reise an.

Auch Utopia wäre dafür eine Kandidatin gewesen, sagt Jens Haveland. In normalen Zeiten hätte er sie gut verkaufen können, womöglich in eines der Länder weit weg von Schleswig-Holstein, wo man für trächtige Kühe hohe Preise zahlt. In normalen Zeiten stünde Utopia jetzt vielleicht auf einem Viehtransporter und würde wochenlang herumgefahren, zum Beispiel nach Usbekistan. Utopia aber stakst noch durch ihre Box, weil die Zeiten in Schleswig-Holstein keine normalen sind: empörte Veterinäre, ängstliche Bauern, wütende Viehhändler – und Berichte über Tierquälerei, die schwer zu ertragen sind.

Mitte Februar verkündeten die Amtsveterinäre in Rendsburg-Eckernförde und Steinburg, Viehtransporte aus ihren Landkreisen in 14 Länder außerhalb der EU (“Drittstaaten”) bis auf Weiteres nicht mehr zu genehmigen, darunter die Türkei, Marokko, Ägypten, Kasachstan und Usbekistan. Am Montag dieser Woche verhängte das Landwirtschaftsministerium in Kiel schließlich ein vierwöchiges Moratorium für das gesamte Bundesland. Auch andernorts sind die Dinge in Bewegung. In Bayern beschloss das zuständige Umweltministerium bereits vergangene Woche, Viehtransporte in Drittstaaten vorerst zu unterbinden. In anderen Bundesländern harrt man noch aus. Die Akteure warten auf ein “bundesweit abgestimmtes Vorgehen”.

Warum die Aufregung? Formal gehen Viehtransporte innerhalb der EU-Grenzen wie auch darüber hinaus “artgerecht” vonstatten. Die EU-Verordnung über den Schutz von lebenden Tieren beim Transport, in Kraft seit 2007, sieht – speziell für lange Reisen – klare Regeln vor: Fahrtenbücher, Temperaturschreiber, Tränkvorrichtungen, Ruhezeiten. 2015 urteilte der Europäische Gerichtshof, dass die Verordnung auch auf den Streckenabschnitten außerhalb der EU gilt. Kontrollen seitens der EU in den Drittstaaten aber gibt es keine. Recherchen von Tierschutzorganisationen und Journalisten belegen immer wieder, dass das Regelwerk oft nicht das Papier wert ist, auf dem es steht. Konsequenzen hat das alles kaum. Bis jetzt.

205 Stunden Tortur

Die Grafik dokumentiert die Fahrt zweier Viehtransporter, die von der Tierschutzorganisation Animals’ Angels begleitet wurden

Quelle: Animal Angels © Doreen Borsutzki/ZEIT Grafik

Ein neues Gutachten nämlich kommt zu dem Schluss, dass Veterinäre, die Tiertransporte in bestimmte Drittstaaten genehmigen, sich der Beihilfe zur Tierquälerei schuldig und damit strafbar machen. In ihrem Fachartikel schildern der Amtsrichter Christoph Maisack und der Tiermediziner Alexander Rabitsch unter Berufung auf Fernsehbilder und eigene Recherchen die teils grausamen Schlachtbedingungen in vielen Nicht-EU-Ländern, besonders in der Türkei, im Nahen Osten, im Maghreb sowie in den asiatischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Dokumentiert sind Szenen aus Schlachthallen, in denen das Blut auf dem Boden knöchelhoch steht. Die hineingezerrten Tiere wittern den Tod und wehren sich. Ohne Betäubung werden ihnen die Augen ausgestochen und die Achillessehnen durchtrennt. Ihre Beine werden gefesselt, es folgen Entblutungsschnitte mit sägenden Bewegungen. Die Tiere verenden nach minutenlangem Todeskampf. Gegen deutsches und europäisches Tierschutzrecht verstoßen derlei Prozeduren eklatant.

All dies konnten deutsche Veterinäre ahnen, es hatte sie bislang aber nicht zu interessieren. Nach geltendem Recht sind Amtstierärzte verpflichtet, auf Verlangen Voratteste für den Tierexport auszustellen und Transporte in Drittstaaten zu genehmigen, nachdem sie die geplanten Reisebedingungen überprüft haben. Was mit den Tieren nach Abladung im Drittland geschieht, wie sie dort behandelt, gehalten, geschlachtet werden, galt als rechtliches Niemandsland. Als Blackbox. Der Vorwurf, Veterinäre machten sich durch ihre “Beihilfe” strafbar, schreckt nun nicht nur die betroffenen Mediziner auf, sondern auch Landwirte, Viehhändler, Politiker. Und der drohende Rechtsstreit wirft ein Schlaglicht auf eine Branche, in der vieles als normal gilt, was nicht normal sein sollte.

Jens Haveland aus Schleswig-Holstein befürchtet, dass am Ende er der
Buhmann sein wird: der böse Landwirt, der seine Rinder an finstere Schlächter verkauft.
Deshalb will Haveland nicht mit seinem richtigen Namen in der Zeitung stehen. Aber er will dem
Schreckensbild vom konventionellen Viehbauern sein Selbstbild entgegensetzen.

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