/Libyen: “Ob sie Benzin oder Menschen schmuggeln, ist ihnen egal”

Libyen: “Ob sie Benzin oder Menschen schmuggeln, ist ihnen egal”

Read the English version of this article here

Acht Jahre nach Beginn des Bürgerkriegs hat sich Libyen zu einem Kampfplatz für lokale Milizen, kriminelle Banden und regionale Machthaber entwickelt. In einem Land, in dem die Institutionen kollabiert sind und sich Politiker, Clans und Gangster gegenseitig bekämpfen, macht Mustafa Sanalla etwas scheinbar Unmögliches: Der Ingenieur leitet das wohl einzige noch funktionierende staatliche Unternehmen. Seit 2011 ist Sanalla im Vorstand der National Oil Corporation, seit Mai 2014 leitet er das libysche Ölunternehmen mit Sitz in Tripolis. Er gilt als nicht korrumpierbar und absolut neutral – eine Ausnahme in einem Land, in dem institutionalisierte Korruption weit verbreitet ist. 

Wir treffen Mustafa Sanalla in London, wo er immer mal wieder ist, um Geschäftspartner zu treffen oder Vorträge zu halten, wie kürzlich in der britischen Denkfabrik Chatham House. Sanalla ist ein freundlicher Mann mit leiser Stimme. Im Interview spricht er über den gefährlichen Kampf ums Öl und warum der Westen mehr tun muss, um den Benzinschmuggel zu stoppen.

ZEIT ONLINE: Herr Sanalla, Sie sagten einmal: Seit dem Sturz des Gaddafi-Regimes sind die libyschen Öl- und Gasreserven zu Geiseln der lokalen und regionalen Machtkämpfe geworden. Wie kann man sich das vorstellen?

Sanalla: Wir haben seit 2014 zwei Regierungen: eine im Westen unter Ministerpräsident Fajis al-Sarradsch, eine im Osten unter General Chalifa Haftar. 2015 haben beide Konfliktparteien einen Friedensplan unterzeichnet. Die National Oil Corporation untersteht der von den Vereinten Nationen unterstützten und von Al-Sarradsch geführten Einheitsregierung in Tripolis. Wir müssen trotzdem versuchen, mit Gruppen zusammenzuarbeiten, die sich bekämpfen.

Mustafa Sanalla ist der Vorsitzende der National Oil Corporation (NOC), dem staatlichen libyschen Mineralölunternehmen mit Sitz in Tripolis. Es wurde 1970 gegründet und wird von der internationalen Gemeinschaft als neutrale Institution anerkannt. Das Unternehmen ist für die gesamte Rohölproduktion in Libyen zuständig.

Mustafa Sanalla ist der Vorsitzende der National Oil Corporation (NOC), dem staatlichen libyschen Mineralölunternehmen mit Sitz in Tripolis. Es wurde 1970 gegründet und wird von der internationalen Gemeinschaft als neutrale Institution anerkannt. Das Unternehmen ist für die gesamte Rohölproduktion in Libyen zuständig.
© Eric Piermont/AFP/Getty Images

ZEIT ONLINE: Kann Ihr Unternehmen noch unabhängig arbeiten?

Sanalla: Ja, wir sind eine der letzten Institutionen, die noch im ganzen Land arbeiten. Wir haben Ölfelder im Südosten und Südwesten, nahe der ägyptischen und algerischen Grenze, und auch offshore. Wir müssen neutral bleiben und uns aus den politischen und militärischen Konflikten heraushalten. Denn ohne die Produktion und den Verkauf von Öl und Gas würde Libyen endgültig kollabieren. Wenn das Öl nicht mehr fließt, kommt Libyen zum totalen Stillstand. Niemand hätte mehr Strom, Krankenhäuser und Schulen müssten geschlossen bleiben, es gäbe keinen Diesel für Autos und Busse, nichts würde mehr funktionieren.

ZEIT ONLINE: Die Anfang 2016 gebildete Einheitsregierung unter Al-Sarradsch hat aber kaum noch Einfluss. Vielmehr kontrollieren diverse Milizen Provinzen, Städte und Institutionen. Kämpfen sie auch ums Öl?

Sanalla: Die Milizen kämpfen nicht direkt um das Öl oder die Infrastruktur, sondern darum, möglichst viel von den Erlösen abzubekommen. Das ist ein großes Problem für uns. Unsere Arbeit wird durch verschiedene Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen geschützt. Sie besagen, dass uns das Monopol über das Ölgeschäft zusteht. Aber nicht alle respektieren das.

ZEIT ONLINE: Es gibt viele bewaffnete Gruppen, die versuchen, Ihre Arbeit zu stören.

Sanalla: Ja. Immer wieder werden Ölfelder und Raffinerien besetzt, meistens von den Wachmännern. Sie arbeiten für kriminelle Gangs in der Gegend, die ihnen dafür viel Geld geben und so freie Hand haben, die Ölfelder zu plündern. Wir müssen den Sicherheitsapparat dringend reformieren. Wir müssen es schaffen, dass das Wachpersonal loyal zu uns und zur Ölproduktion ist und sich nicht mehr den Clans anschließt. 

ZEIT ONLINE: Das Problem ist das Wachpersonal?

Sanalla: Ja. Es gibt die Petroleum Facilities Guards (PFG), die offiziell dem Verteidigungsministerium unterstehen. Doch sie sind in lokale Einheiten aufgesplittert, die in den verschiedenen Regionen jeweils unabhängig operieren. Die Einheiten im Osten, die unter Kontrolle von Haftar stehen, sind professionell und machen ihren Job. Aber die im Westen bereiten uns große Probleme.

Die Männer, die sie anführen, haben im Chaos nach der Revolution die Kontrolle über ihre Dörfer und die Ölfelder übernommen. Sie haben keine Ausbildung und keine Disziplin, spielen sich aber als Schutzpatronen auf. Immer wieder geben sich auch Terroristen und Kriminelle als Mitarbeiter der PFG aus. Sie besetzen ein Ölfeld und sagen: Solange NOC uns nicht bezahlt, geben wir die Produktion nicht frei.

ZEIT ONLINE: Anfang Dezember wurde das größte Ölfeld, das
Sharara-Ölfeld im Südwesten Libyens, von der lokalen Bevölkerung und
aufständischem Sicherheitspersonal besetzt. Seither steht die Produktion
still. Wie können Sie das lösen?

Sanalla: Das Problem
ist, dass die Leute, die das Ölfeld blockieren, unsere Arbeiter
bedrohen. Das sind bewaffnete Gruppen aus der Gegend, die uns mit der
Blockade um Geld erpressen wollen. Die Behörden versuchen, mit ihnen zu
verhandeln, aber bislang sind sie noch nicht abgezogen. Bis wir eine Lösung gefunden haben, muss die Produktion
ruhen. Der libyschen Wirtschaft geht dadurch sehr viel Geld verloren.

Hits: 34