/Globalisierung: “Ideologie der Ungleichheit”

Globalisierung: “Ideologie der Ungleichheit”

Von der indischen Kongresspartei bis zur demokratischen Präsidentschaftskandidatin in den
USA: Alle suchen den Rat von Thomas Piketty. Der Pariser Wirtschaftsprofessor und Autor ist
gerade dabei, weltweit linke Politiker mit Ideen zu munitionieren, wie sich Geld von den
reichen zu den relativ ärmeren Bevölkerungsschichten umverteilen ließe. Beim Anruf auf
seinem Handy ist Piketty nicht ansprechbar: “Nein, nein, stören Sie jetzt nicht!” Er arbeite
gerade “in quasi völliger Abschirmung”, so Piketty per Mail, an einem neuen Buch, das im
September erscheinen soll. Also gibt es des Nachts diesen schriftlichen Austausch.

DIE ZEIT:
Herr Piketty, wie ist der Zustand der politischen Linken auf der Welt?

Thomas Piketty:
Seit der Wahl Donald Trumps, dem Brexit und der Explosion xenophober Wähleranteile in
Europa nimmt das Verständnis für die Gefahren zu, die von der wachsenden Ungleichheit und
dem Gefühl des Verlorenseins innerhalb der arbeitenden Klassen ausgehen. Viele begreifen
heute die dringende Notwendigkeit einer neuen sozialen Regulierung des Kapitalismus.

ZEIT:
In Ihrem Werk
Das Kapital im 21. Jahrhundert
argumentieren Sie, dass die
Ungleichheit im Kapitalismus immer wächst
. Kann es dagegen überhaupt Abhilfe geben?

Piketty:
Um die Ideologie der Ungleichheit zu bekämpfen, haben alle Ausdrucksformen eine Bedeutung.
Der Kampf gegen Ungleichheit ist heute vielfältig. Der Todesstoß für die ungerechte Politik
des französischen Präsidenten Emmanuel Macron muss zum Beispiel gar nicht von den Gelbwesten
kommen, wie man heute leicht denken könnte. Er kann genauso gut von einer amerikanischen
Senatorin aus Massachusetts kommen, die sich der Ungleichheit stellt.

ZEIT:
Die Kraft einer neuen linken Bewegung kommt Ihrer Meinung nach aus den USA?

Piketty:
Die mir nahestehenden Ökonomen Emmanuel Saez und Gabriel Zucman haben gerade geholfen, das
Wirtschaftsprogramm von Elisabeth Warren auszuarbeiten, die US-Senatorin aus Massachusetts
und seit Kurzem auch demokratische Präsidentschaftskandidatin ist. Warren, eine
Juraprofessorin aus Harvard, steht bestimmt nicht im Verdacht, eine radikale Linke zu sein.
Aber sie will nun erstmalig in der Geschichte der Vereinigten Staaten eine regelrechte,
landesweite Vermögenssteuer einführen. Ihr Vorschlag sieht vor, die Vermögen im Wert von 50
Millionen bis einer Milliarde Dollar mit zwei Prozent zu besteuern und was darüber liegt mit
drei Prozent.

ZEIT:
Eine Vermögenssteuer gibt es in vielen Ländern Europas schon. Und die Pläne von Elisabeth Warren würden nur Steuereinnahmen von einigen Milliarden Dollar ausmachen. Ist das nicht
lediglich Kosmetik?

Piketty:
Die Debatte um mehr Steuergerechtigkeit beginnt gerade erst. Die von Warren jetzt
vorgesehenen Steuersätze lassen sich auf fünf bis zehn Prozent pro Jahr für Multimilliardäre
ausweiten. Schon jetzt scheint sicher, dass diese Debatte im US-Wahlkampf des Jahres 2020
eine Schlüsselrolle spielen wird. Die New Yorker Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez schlägt einen Steuersatz von 70 Prozent auf die höchsten Einkommen vor. Bernie
Sanders
fordert einen Satz von 77 Prozent auf die höchsten Erbschaften. Warrens Ansatz ist
am innovativsten, aber alle drei Vorschläge ergänzen sich und können sich gegenseitig
bereichern.

ZEIT:
Warum sollte diese amerikanische Debatte auch für Europa Folgen haben?

Piketty:
Früher waren uns die USA in Sachen Steuergerechtigkeit weit voraus. Zwischen 1930 und 1980
wurden die höchsten Einkommen in den USA mit einem Satz von durchschnittlich 81 Prozent
besteuert, die höchsten Erbschaften mit 74 Prozent. Das hat schon damals den US-Kapitalismus
nicht bremsen können, ganz im Gegenteil. Vielmehr hat es ihn zu einem Zeitpunkt egalitärer
und produktiver gemacht, als die USA noch nicht vergessen hatten, dass Bildungsvorsprung und
Investitionen ins Erziehungssystem für den Wohlstand der USA sorgen und nicht die Religion
von Eigentum und Ungleichheit. Seither haben Reagan, Bush und Trump versucht, dieses Erbe zu
zerstören, und Europa ist ihnen über weite Strecken gefolgt.

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