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Sterbebegleitung: Wir steigen hoch

Die Autorin Tanja Raich, geboren 1986 in Meran, lebt in Wien. In den vergangenen Jahren erhielt sie zahlreiche Nachwuchspreise und Literaturstipendien. Am 4. März erscheint ihr Debütroman “Jesolo”. Im Dezember 2018 ist ihr Großvater verstorben. In dieser Erzählung erinnert sie sich an ihn.

Mein Großvater träumt. Er
geht auf einen Berg. Er ist hoch. Der Weg ist steil. Er kommt nicht mehr
weiter. Nicht hinauf. Nicht hinunter. Dann liegt er im Krankenhaus. Meine Großmutter
wartet schon auf ihn und hält seine Hand.

Mein Großvater schaut. Er
schaut nach draußen in den Herbst. Ich schau in die Welt, sagt er. Die Blätter
fallen von den Bäumen, in allen Farben. Manche rostrot, andere orange und gelb,
manche ganz zerknittert und braun, manche leuchten immer noch so grün wie am
ersten Tag. Der Nebel zieht sich die Berge hinauf und ganz oben, auf dem
Gipfel, schneit es. Manchmal sieht er lange hinaus, zu lange, manchmal weiß ich
nicht, was er denkt, ob er vielleicht für einen kurzen Moment verschwindet.

Mein Großvater singt. Er
singt Lieder, die er als junger Mann gesungen hat. Damals ist er mit seinen
Freunden von einem Gipfel zum nächsten gestiegen. Im Rucksack eine Flasche
Rotwein, ein Taschenmesser, ein Stück Speck. Es gibt keinen Berg, dessen Namen
er nicht kennt. Wir steigen hoch, wir steigen hoch. Wenn er singt, ist er
woanders, ein Strahlen erleuchtet sein Gesicht. Die Erinnerung kommt in sein
Zimmer. Der Geruch des Waldes. Wurzeln und Steine unter den Füßen. Der Geruch
von Schnee, wenn man ganz oben ist. Ich hab die Bilder gesammelt, sagt er, die
sind für dich, damit du weißt, wie ich ausgesehen habe, damit du weißt, dass
ich nicht immer so ausgesehen habe.

Mein Großvater lacht. Er
lacht immerzu. Das hat er schon immer gemacht. Er lacht mit den
Krankenschwestern, mit den Ärzten, er lacht mit seiner Tochter, seiner Frau,
seinen Enkeln und Freunden. Er hat immer einen Spruch parat, unterhält seine Gäste.
Ihr wisst, wo ihr mich findet, sagt er, wenn sie gehen, ich bin hier fix
angestellt. Wenn er lacht, sieht man all seine Falten, die entstanden sind im
Lauf seines Lebens. Manchmal lacht er in sich hinein, dann sieht er aus wie ein
Lausbub, der etwas angestellt hat.

Mein Großvater baut. Er
hat schon viele Pläne, was er alles bauen könnte. Einen kleinen Tisch für meine
Mutter. Einen Stuhl für meine Großmutter. In der Garage hat er eine alte
Werkstatt aus Holz mit kleinen Schubladen voller Schrauben und altem, rostigem
Werkzeug. Als Kind habe ich in den
Schubladen gestöbert, alle Schränke aufgemacht. Überall waren kleine Verstecke.
Mannerschnitten und Mozartkugeln, ganz hinten, zwischen Zange und Hammer.
Dieser Geruch nach Keller, nach Moder und Holz ist noch da, erinnert mich immer
noch an meine Kindheit. Nur die Verstecke sind leer, niemand ist mehr da, der
sie befüllt.

Nur das Herz ist stark

Mein Großvater erzählt.
Geschichten, die er noch nie erzählt hat. Ich sehe mich neben ihm stehen, als
kleines Kind, wie er mich mit dem Bus weit hinauffährt, auf irgendeinen Berg,
ich halte seine Hand, damit ich nicht umfalle, und wir lachen und singen ein
Lied, an das ich mich nicht mehr erinnern kann.

Mein Großvater schläft.
Manchmal ist er so schwach, dass er sich nicht aufsetzen, nicht essen, nichts
halten kann. Dann bleibt ihm nichts anderes, als zu schlafen. Nur zu liegen, den
Schmerz zu ertragen, der sich von seinem Fuß immer weiter nach oben zieht,
manchmal am Rücken überhandnimmt, manchmal weiter wandert, über den ganzen Körper,
dass er nicht mal mehr sagen kann, wo es schmerzt. Nur das Herz ist stark,
sagen die Ärzte, nur das Herz hält ihn noch am Leben, alles andere ist hin.

Mein Großvater behauptet.
Er behauptet, dass er alles allein schafft, dass er aufstehen kann, dass er
gehen kann, dass er sich waschen kann, dass er alles, was es zu tun gibt an
ihm, selbst erledigen kann, dass er fast keine Arbeit macht. Ich bin doch nur
einer, sagt er, nur ein Mensch allein. Bald wird alles wieder besser, sagt er
und hält die Hand meiner Großmutter, es geht aufwärts, ich muss nur nach Hause,
nach Hause in mein Bett, was Gutes essen und schlafen.

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