/Ferdinand von Schirach: “Der deutsche Adel ist der langweiligste in Europa”

Ferdinand von Schirach: “Der deutsche Adel ist der langweiligste in Europa”

Schon zehn Minuten vor dem vereinbarten Zeitpunkt sitzt Ferdinand von Schirach bereits am reservierten Tisch im Café Einstein in der Berliner Kurfürstenstraße, vor sich aufgeklappt ein kleiner silberner Laptop, daneben eine Tasse schwarzer Kaffee, und schreibt. Er klappt den Computer zu. Der Laptop sei neu, sagt er und schwärmt, wie klein und handlich er sei. Dann legt er ihn neben sich auf die Sitzbank.

ZEITmagazin: Herr von Schirach, da Sie gerade über Ihren Computer geredet haben: Sie haben auch in
Ihrer ersten Karriere als Anwalt früh mit moderner Technik gearbeitet.

Ferdinand von Schirach: Ich glaube, ich war einer der ersten Anwälte im Gericht, die sämtliche Akten auf dem Computer hatten. Das war fantastisch, weil man schneller sein konnte als die Richter. Wenn ein Zeuge etwas im Gericht sagte, dann fand der Computer sofort alles Mögliche dazu in der 10.000 Seiten dicken Akte. Wissen Sie, was das Beste ist an diesem neuen Laptop? Der Akku hält zwölf Stunden. Egal wo Sie sind, Sie klappen ihn einfach auf und beginnen zu schreiben.

ZEITmagazin: Sie schreiben Ihre Bücher, wo auch immer Sie sind?

Von Schirach: Die Umgebung ist doch egal. Man soll mit solchen Sachen nicht so einen Aufwand betreiben, das macht nur unglücklich. Ich klappe das Ding auf und bin sofort weg, ganz egal, was um mich herum passiert. Cafés sind ideal, dort ist man in der Welt, aber muss nicht an ihr teilnehmen. Das einzige Problem ist, dass man in den meisten Cafés nicht mehr rauchen darf, das heißt, ich muss ab und zu rausgehen für eine Zigarette.

ZEITmagazin: Das Rauchen spielt in Ihren Texten seit Langem eine große Rolle, Ihr neues Buch

Von Schirach: … heißt auch so, ja,
Kaffee und Zigaretten.

ZEITmagazin: Wie viel rauchen Sie am Tag?

Von Schirach: Das weiß ich nicht.

ZEITmagazin: Das glaube ich nicht.

Von Schirach: Ich weiß es wirklich nicht, weil ich eine Fülle von Etuis habe, die ich unregelmäßig auffülle. Schauen Sie, hier ist eins …

ZEITmagazin: … damit Sie nicht merken, wie viel Sie rauchen?

Von Schirach: Auch. Und weil ich die hässlichen Bildchen nicht mag, die vom Rauchen abhalten sollen. Es sind auf jeden Fall zu viele Zigaretten. Beim Schreiben raucht man dauernd, irgendwie gehört es dazu, wenn man einmal damit angefangen hat. Ein Buch ohne Zigaretten kann ich mir kaum vorstellen. Wolf Wondratschek hat das einmal gesagt: “Das Einzige, was beim Schreiben hilft, sind Zigaretten und Kaffee.” Es stimmt. Immerhin trinke ich keinen Alkohol mehr, seit ich 23 bin.

ZEITmagazin: In Ihrem neuen, autobiografischen Buch schreiben Sie gleich in der ersten Geschichte
über einen Alkoholrausch, den Sie als Teenager hatten. Sie wollten sich umbringen mit einer
Schrotflinte, waren aber zu betrunken.

Von Schirach: Es war mein erster und einziger echter Rausch. Dass ich keinen Alkohol mehr trinke, hat damit zu tun, ja. Ich nehme auch keine anderen Drogen zu mir – außer Nikotin und Koffein. Die Kontrolle über sich zu verlieren: für mich kein besonders erstrebenswerter Zustand. Die einzige Droge, von der ich träume, ist Opium. Ich habe sie noch nie probiert, aber ich glaube, ich wäre der ideale Opiumraucher.

“Ein Buch ohne Zigaretten kann ich mir kaum vorstellen.”
© Markus Jans

ZEITmagazin: Warum?

Von Schirach: Opium lässt alles Scharfkantige verschwinden. Sie bekommen die Haltung, die von griechischen Philosophen und japanischen Zen-Meistern gleichermaßen empfohlen wird: Es wird Ihnen alles ein bisschen gleichgültig. Am besten hat das Graham Greene in
Der stille Amerikaner
beschrieben, die Welt um ihn herum vergeht einfach. Ich stelle es mir jedenfalls so vor. Das wäre mein Idealzustand.

ZEITmagazin: Sie wären gern gleichgültiger?

Von Schirach: Mir ist die Welt oft zu laut, zu bunt, zu kompliziert und zu angespannt. Ich finde sie meistens etwas anstrengend.

ZEITmagazin: Sie beschreiben auf den ersten Seiten Ihres Buchs, wie Sie aufgewachsen sind. Da ist
von Fuchsjagden mit Pferden die Rede, von einem Teich mit Karpfen und Brassen, an dem Sie
jeden Tag Zeit verbracht haben. “Erst hinter den Kastanien und den Steinmauern des Parks
beginnt die andere Welt”, heißt es. Klingt nach einer behüteten Kindheit. Was war das für
eine Welt?

Von Schirach: Vermutlich gibt es keine glückliche Kindheit. Ein Kind ist ja nicht das, was Sie sehen. Alles ist kompliziert und neu, Dinge bleiben im Kopf, die Erwachsene gar nicht bemerken, und es ist erstaunlich, wie wenig Verletzungen davon zurückbleiben. Die Welt, in der ich aufgewachsen bin, gibt es jedenfalls nicht mehr. Es ist ein bisschen seltsam: Ich bin erst 54, aber wenn ich von meiner Kindheit erzähle, wirkt sie wie aus dem 19. Jahrhundert.

ZEITmagazin: Wie meinen Sie das?

Von Schirach: Diese großbürgerlichen Haushalte sind längst aufgelöst. Sechsmal in der Woche gab es bei uns Wild aus der Jagd, ich kann das bis heute nicht mehr essen. Die Hausmädchen, die Köchinnen, die Fahrer, Gärtner und Förster, das Jagdhaus, die Treibjagden und die Hundemeute, der Tennisplatz mit dem roten Sand, der immer an den Schuhen klebte, die Teiche mit den Seerosen, die Stille und Weite, das Langsame, das alles ist längst verschwunden. Es war eine geschlossene Welt.

ZEITmagazin: Ihr Urgroßvater mütterlicherseits war ein reicher Mann, ein Fabrikant. Sie sind auf
dessen Anwesen groß geworden, in Trossingen.

Von Schirach: Trossingen ist eine kleine Stadt, auf halbem Weg zwischen Stuttgart und Basel, am Fuße der Schwäbischen Alb, 700 Meter hoch. Die Winter waren lang und rau. Es gab viel Schnee.

ZEITmagazin: Von Ihrer Familie wurden Sie später nach St. Blasien auf ein Jesuiteninternat
geschickt.

Von Schirach: In die zweite geschlossene Welt, umgeben von einer Klostermauer. Als wir in der Pubertät waren, glaubten wir Schüler natürlich, wir seien sehr modern und aufgeklärt. Nichts davon stimmte. Zumindest ich wusste nichts von der wirklichen Welt. Nach dem Abitur bin ich als Erstes aus der Kirche ausgetreten. Einen Monat danach begann schon die Bundeswehr.

ZEITmagazin: Warum sind Sie, bei Ihrer Familiengeschichte, bei Ihrem Großvater Baldur von Schirach, Chef der Hitlerjugend und einer der Hauptkriegsverbrecher, überhaupt zur
Bundeswehr gegangen?

Von Schirach: Ich habe versucht, drum herumzukommen, indem ich eine Kniekrankheit vorgetäuscht habe. Das funktionierte leider nicht, obwohl ich nicht so schlecht im Humpeln war. Man musste ja damals noch verweigern.

Seine Kindheit verbrachte von Schirach auf einem Anwesen in Trossingen, sechsmal in der Woche gab es Wild.
© privat

ZEITmagazin: Damals heißt: Mitte der Achtziger.

Von Schirach: 1984, ja. Der Wehrdienst dauerte 15 Monate. Aber man konnte auch Offiziersanwärter werden, das dauerte nur neun Monate länger. Der Reiz war natürlich das hohe Gehalt, das man in dieser Zeit bekam. Also habe ich mich sofort als Offiziersanwärter beworben.

ZEITmagazin: Als Berufssoldat?

Von Schirach: Ja, für zwei lange Jahre sollte das mein Beruf sein. Ich musste einen Test machen, und danach wurde mir angeboten, nicht nur Offizier zu werden, sondern sogar gleich Nato-Soldat. Irgendwie war das damals noch exklusiver und vor allem verbunden mit einem Gehalt, das doppelt so hoch war wie das eines jungen Offiziersanwärters. 2400 Mark, wenn ich mich richtig erinnere, sobald man in Brüssel stationiert wurde – für einen, der gerade aus der Schule kam, war das unglaublich viel Geld. Dafür musste man allerdings zunächst für sechs Monate nach Köln in die Schule für Personal in integrierter Verwendung. So hieß das bei der Bundeswehr. Schon nach einer Woche wurde mir klar, was für einen grauenhaften Fehler ich gemacht hatte. Ich tauge nun einmal nicht als Soldat. Vermutlich war das wirklich das Dümmste, was ich in meinem Leben versucht habe. Mit viel Mühe bin ich da wieder rausgekommen. Ich wurde danach einfacher Soldat in einer Schreibstube, eine völlig verlorene Zeit.

ZEITmagazin: Was war so schlimm?

Von Schirach: Es war dumpf, träge und vor allem unfassbar langweilig. Nach fast zehn Jahren im Internat wollte ich auch in keinen Schlafsaal mehr. Mich ekelten die Rucksäcke, das Kochgeschirr aus Blech, der Geruch von nassen Socken und das lächerliche andauernde Herumschreien der Vorgesetzten. George Bernard Shaw beschreibt in
Arms and the Man
einen Soldaten, der anstelle einer Pistole eine Tafel Schokolade im Halfter hat. Das ist mir näher.

ZEITmagazin: Man kann Sie sich auch kaum als Soldat vorstellen.

Von Schirach: Ich war nicht ganz schlecht bei den Schießübungen. Das war aber auch das Einzige, was ich einigermaßen konnte. Als Kind war ich ja dauernd mit auf der Jagd gewesen, auch wenn ich es heute ausgesprochen albern finde, wenn Menschen auf Tiere schießen.

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