/Kapitalismus: Auf der Kippe

Kapitalismus: Auf der Kippe

Ende Januar im Schweizer Skiort Davos. Das World Economic Forum tagt, und
während die Temperaturen draußen in der Schneepracht auf minus 20 Grad sinken, laufen im
Kongresszentrum die Gemüter heiß. Ursache dafür sind nicht etwa rechtsnationale Populisten
(Donald Trump und sein Kabinett haben in letzter Minute abgesagt), Schuld haben auch keine
Internetmilliardäre mit ihren verstörenden Visionen vom Datenwunderland. Der Streit geht aus
von linken Ökonomen und Wirtschaftshistorikern. Und da auf diesem Forum oft erste Trends in
der globalen Ökonomie spürbar werden, darf man die Konflikte getrost als Zeichen nehmen, dass
Umbrüche bevorstehen.

Ein Beispiel ist das traditionelle Ökonomen-Dinner: Marktliberale Forscher sucht man dort im Jahr 2019 vergebens. Den Ton gibt Guy Standing an, Arbeits- und Entwicklungsforscher an der University of London und Aktivist für das bedingungslose Grundeinkommen. Sein großes Thema sind die Verlierer der Globalisierung, die er “das Prekariat” nennt. Seine These: Für die Kapitalbesitzer wurden die Steuern gesenkt und die Ansprüche als Aktionäre gestärkt, wobei gleichzeitig viele Arbeiter in “chronischer Unsicherheit, Schulden und Stress versanken. Und die Einkommensverteilung brach vollends auseinander.”

Das Prekariat teilt Standing auf: Hier die Gruppe der Gestrigen, die sich den Rechten zuwendet und – so vermutet der Arbeitsforscher – auf lange Sicht altersbedingt schrumpft. Dort die der jungen Progressiven, die zwar eine lange Zukunft vor sich habe, dieser aber kaum mehr abgewinnen könne als Trostlosigkeit und Kampf ums Dasein. Die Progressiven müssen demnach ernst genommen werden, weil sie andernfalls drohen, die Demokratie zum Einsturz zu bringen. “Wir haben heute keine echte freie Marktwirtschaft. Wir brauchen wieder eine”, schließt der 71-jährige Brite, der schon lange zu den Warnern gehört und jetzt Gehör findet.

Ein eindrucksvoller Mitstreiter Guy Standings kommt aus den Niederlanden und heißt Rutger Bregman. Frisch, frech, unverschämt kommt er in Davos daher. Noch bevor die jugendliche Umweltaktivistin Greta Thunberg den anwesenden Wirtschaftskapitänen Angst und Schrecken vor dem ökologischen Weltuntergang an den Hals wünscht, legt sich der 30-jährige Historiker Bregman mit dem Kapital an.

Damit die weniger Besitzenden selbstbestimmt leben können, schwebt ihm eine Welt mit 15-Stunden-Woche und Grundeinkommen vor. Wer dafür bezahlen soll? Selbstverständlich die Reichen. In einem vehementen Auftritt verlangt er von der anwesenden (und nicht anwesenden) Geschäftselite, sie solle aufhören, von Philanthropie zu faseln, und endlich das wahre Thema anfassen: “die Steuern”. Sie sollten ihren gerechten Anteil bezahlen, ruft er den Milliardären zu, und Steuerflucht müsse unterbunden werden, um den Wohlfahrtsstaat gerecht zu finanzieren. Die kurze Rede verbreitet sich daraufhin nicht nur rasend im Internet, sie hallt auch in der Bergwelt nach.

Dabei war Davos nicht etwa der Höhepunkt einer weiteren linken Protestbewegung à la Occupy Wall Street, die sich im Nichts verliert. Eher markierte das Treffen einen beginnenden Großangriff auf das Kapital. Drei Jahrzehnte lang war politisch kaum etwas durchzusetzen gegen die Vermögenden dieser Welt. Um deren Investitionen wetteiferten die Nationen mit Deregulierung und Steuersenkungen, verkauften Firmen aus der Staatshand und öffneten ihre Arbeitsmärkte für Niedriglöhne. Nun, da sich Enttäuschung breitmacht, rückt die linke Alternative wieder vor – hinein ins Feld politischer Realisierbarkeit.

Und das überall, gerade auch in den Vereinigten Staaten. Dort machte Rutger Bregman gerade erneut Schlagzeilen, weil er den Moderator des rechten US-Senders Fox News mit dem Vorwurf zur Weißglut brachte, seinesgleichen hätte sich von Milliardären kaufen lassen und versuchte nun in letzter Minute noch auf den Steuergerechtigkeitszug aufzuspringen.

Und genau das ist der Punkt, denn dieser Zug ist unterwegs. Etwa in der amerikanischen Politik, wo führende demokratische Politiker dem Kapital Einhalt gebieten wollen. Der selbst ernannte “demokratische Sozialist” Bernie Sanders bot Hillary Clinton bei den Demokraten schon 2016 Paroli. Nun begeistert der Senator aus Vermont seine meist jugendlichen Fans mit der Idee, hohe Vermögen im Erbfall mit 77 Prozent zu besteuern. Eine junge Kongressabgeordnete will die Einkommen reicher Leute mit bis zu 70 Prozent belasten, um die Klimawende in den USA zu finanzieren, eine erfahrene Senatorin möchte von großen Vermögen jährlich zwei Prozent abschöpfen, damit alle amerikanischen Eltern in den Genuss günstiger Kinderbetreuung kommen können.

Das Kapital soll seinen
fair share
an einem starken Staat bezahlen. Und wenn das “neuer Sozialismus” heißen soll, auch egal und manchmal sogar gewünscht, um die linken Wähler in den USA gegen Donald Trump zu mobilisieren. Oder in Großbritannien gegen die Tories: Bis 2015 versuchte die dortige Arbeiterpartei ganz nach der Idee von New Labour, die einst Tony Blair an die Regierung gebracht hatte, Wahlen in der Mitte zu gewinnen. Dann übernahm auf einmal ein “demokratischer Sozialist” die Partei. Sein Programm könnte man
old, old Labour
taufen.

Hits: 20