/“Enteignung”: Wir können uns niemals sicher sein

“Enteignung”: Wir können uns niemals sicher sein

Der Romaneinstieg ist ein kleines Schelmenstück. Reinhard Kaiser-Mühlecker spielt auf den ersten Seiten mit äußerst bekannten Motiven: Es herrscht eine unerträgliche Hitze, die müde macht, fast schon gleichgültig gegenüber den Mitmenschen, denen es nicht besser ergeht, hinzu kommt ein vom eigenen Leben gelangweilter Icherzähler. Zynisch wirkt der Kerl, ist es aber nicht. Missverstanden wird er, auch weil er sich selbst nicht ganz versteht. Der zunächst namenlose Held ist ein Waisenkind, der einzig Überlebende eines Bootsunglücks. Seine unlängst verstorbene Tante hat ihm ein Haus hinterlassen, und so ist er zurückgekehrt in die 50.000-Einwohner-Heimatstadt, irgendwo in der österreichischen Provinz.

Der Mann – früher hätte man gesagt: in den besten Jahren – wird als Fremder in allen Lebenslagen vorgestellt, und spätestens, als er von sich sagt, er habe sich noch nie verliebt, mag man an Albert Camus denken und wird sich fragen, ob es in Enteignung um eine Art Reformulierung eines literarischen Existenzialismus geht. Aber Kaiser-Mühlecker nutzt seine Romanouvertüre, um aufgebaute Erwartungen gleich wieder zu enttäuschen, um zu zeigen, dass wir Leser uns niemals sicher sein können, genau wie die merkwürdig erschöpften und zugleich herrlich widerständigen Figuren mit der fortwährenden Unsicherheit einer unwirtlichen Welt kämpfen müssen. Kaum haben wir nämlich unseren Protagonisten als Misanthropen abgestempelt, beginnt er zu flirten, wild und ungestüm, mit Frauen, die er zufällig trifft. Er wird mit ihnen auch ins Bett gehen, nicht weil er es unbedingt will, sondern weil es eben passiert, etwa mit der Lehrerin Ines: “Und dann, plötzlich, rollte sie sich auf mich und küsste mich, die Augen dabei offen, aber völlig ohne zu schauen – küsste mich, als hätte ich sie darum gebeten und sie könne es mir nicht abschlagen, als müsse es eben sein.” 

So schwer es ist, die Gefühle und Ziele der Figuren genau zu bestimmen, so gefährdet sind die ökonomischen und politischen Verhältnisse, in denen sich das Romanpersonal bewegt. Der etwas undurchsichtige Liebhaber arbeitet als Journalist für ein Lokalblatt, das auch schon mal mehr Ausgaben verkauft hat. Früher war er bei renommierten Blättern unter Vertrag, jetzt haut er in zehn Minuten eine Glosse über die zivilisatorische Errungenschaft des Kühlschranks in den Rechner, passend zum dauerheißen Wetter sozusagen. “Würde mich jemand fragen, ich wüsste keine Antwort auf die Frage, weshalb ich Journalist geworden war”, heißt es im inneren Monolog.

Ein alter Mann fällt die Treppe hinunter

Illusionen hat dieser Journalist nicht mehr, also kann er sie auch nicht verlieren wie etwa Lucien Chardon in Balzacs berühmtem Journalisten- und Gesellschaftsroman. Die literarischen Verweise werden als verzerrtes Echo miterzählt, ohne dass sie eine wichtige Rolle spielen in der neuen Ruppigkeit, die Kaiser-Mühlecker in Enteignung beschreibt. Sein alles andere als rasender Reporter ist sich jedenfalls nicht zu fein, einen Fotobericht über einen tödlichen Unfall in der ländlichen Peripherie anzufertigen. Ein alter Mann war die Treppe hinuntergestürzt, und die Zeitung wünscht ein wie auch immer aussagekräftiges Bild der gefährlichen Stiege. Schauplatz ist der Bauernhof eines alten Klassenkameraden namens Flor, der den Reporter aber nur als lästigen Eindringling wahrnimmt und ihn nicht wiedererkennt.

Der Beitrag erscheint, mit wenig Text und riesengroßem Foto der steilen Stufen, als würde es sich um einen Tatort handeln. Sein Freund und Vorgesetzter Parker versucht die reißerische Aufmachung zwar zu rechtfertigen, aber so richtig ernst zu nehmen sind die Argumente nicht. Die Respektlosigkeit gegenüber dem trauernden Flor ist zu offensichtlich. Dem ansonsten nicht gerade zimperlichen Verfasser ist dieses Stück Gossenjournalismus jedenfalls peinlich. Angetrieben vom beruflichen Kontrollverlust steigt der Hobbyflieger wie so oft nach Feierabend in ein kleines Flugzeug. In der Luft glaubt er noch, die Übersicht zu haben, und es ist wohl auch kein Zufall, dass er schon bald über Flors Bauernhof fliegt und dann auf einem Hügel, ein paar Kilometer entfernt von den Stallungen des Schweinezüchters, einen markanten Schriftzug auf der kahl rasierten Kuppe entdeckt. “Enteignung” steht dort geschrieben, in großen und anklagenden Lettern.

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