/Mark Hollis: Der Gärtner von Eden

Mark Hollis: Der Gärtner von Eden

Es dürfte einmalig in der Popgeschichte sein, dass eine Band sich auf dem Gipfel ihres Ruhms entscheidet, alles aufs Spiel zu setzen. Mit nur sechs Songs zerstören Talk Talk 1988 ihre Karriere. Und sie zerstreiten sich nicht mal darüber. Sie wollen es so, folgen ihrem Sänger und Songschreiber Mark Hollis in eine neue musikalische Dimension, für die es noch kein Vokabular gab.

Dieser Verrat war keine Kleinigkeit. Talk Talk wussten, dass sie ihrem Publikum eine Welt entzogen, die es liebte. Eine Welt des “schönen Leidens”, zerbrechlich und grandios zugleich. Nach dem Album Spirit of Eden hatte die britische Band alles gesagt. Weiter konnte sie sich nicht entfernen von den Erwartungen an eine Popband, die den Sound der Achtziger mit Synthie-Hits wie Such A Shame, It’s My Life und Life’s What You Make It geprägt hatte. Aus einer Band mit Hits war eine Band für die Ewigkeit geworden.

Natürlich konnte die Plattenfirma diesen mutwilligen Akt destruktiver Kreativität nicht ignorieren. Als sie 1991 entnervt von Hollis’ Uneinsichtigkeit in ökonomische Zwänge die Reißleine zog, machte der mit seinem Langzeitgefährten Tim Friese-Green noch ein letztes Talk-Talk-Album namens Laughing Stock und löste die Band auf.

Seither umgibt sie der Nimbus des Genialen, an dem sich immer wieder Musikergenerationen orientiert haben. Schon das Spätwerk von Talk Talk für sich zu entdecken kam vielen wie eine Offenbarung vor, weil sie zuvor so gut wie gar nichts von der vierköpfigen Band und ihren sensationellen Platten mitbekommen hatten. Beide verkauften sich schlecht. “Ich konnte nicht glauben, dass ich sie verpasst hatte”, sagt etwa Paul Marshall dem Guardian, als 2011 eine Tribute-Platte mit Neuinterpretationen erschien.  

Je mehr Talk Talk ihr Publikum verstörten, es überforderten und schließlich verloren, desto besser wurde ihre Musik – ein undurchdringliches Dickicht aus Jazz, Pop, Postrock und Neuer Musik, aus sakralen, poetischen und profanen Elementen, spannungsgeladen bis in die letzte Faser. Ein mystisches Universum aus leerem Raum und Gravitation.

Dass die Musik dieser Band immer mehr Tiefe erlangte, je mehr sich das Jahrzehnt mit Oberflächlichkeit begnügte, hatte ganz wesentlich mit Mark Hollis zu tun, ihrem Mastermind. Einerseits, weil er sich hartnäckig weigerte, seine Songs zu erklären. Andererseits schlug er als Sänger Pathosbögen voller Verzweiflung, die von der Musik nie aufgelöst wurden. Er stand da, hinter seinem Mikrofon, versunken in den Klang und wie ein Gefangener seiner selbst. Ein kleiner Mann, verschreckt, mit abstehenden Ohren, der sang: “It’s so serious“.

Für Hollis war die Gegenwart und alles, was ihm darin wichtig vorkam, nur “einen Traum entfernt”. Als Idealist bestrafte er sich dafür, “zu viel Hoffnung” zu haben. So artikulierte er in seinen Songs Zweifel, Schuldgefühle und Ängste und fragte sich, wie schlimm und verdorben es sei, wenn seine Freundin nicht wusste, dass er mit einer anderen Frau unterwegs war. Andererseits sagte er sich: “It’s my life.”

Zur Musik fand der 1955 in Tottenham geborene Hollis durch seinen älteren Bruder. Der war DJ und kümmerte sich um die Geschäfte aufstrebender Bands. Zunächst wollte Mark Hollis Kinderpsychologe werden. 1975 siedelte er nach London über, geriet in den Sog des Punk und brachte mit seiner ersten Band The Reaction eine Single heraus. Nichts war damals von Dauer. So zerfiel die Band gleich wieder.

Hits: 8