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Tower of London: Zur Sicherheit der Queen

Burg in der Burg: White Tower heißt die Festung inmitten des Towers, die Wilhelm der Eroberer im 11. Jahrhundert errichten ließ.
© Tim Langlotz für MERIAN

Wie er da saß, hoch oben im Tower, konnte eigentlich nichts mehr die Sicht auf den Sternenhimmel stören, doch die unzähligen Raben, ein Ärgernis, schissen unaufhörlich auf die Linse des Teleskops. Irgendwann hatte John Flamsteed genug. Der Hofastronom beschwerte sich an höchster Stelle bei King Charles II. Der saß seit 1660 auf dem Thron, liebte die Wissenschaft fast genauso wie die Frauen und befahl, die Vögel töten zu lassen. Aus bis heute unerfindlichen Gründen mischte sich ein Höfling ein und warnte den Monarchen: Sollten die Raben den Tower of London verlassen, werde dieser fallen – und mit ihm das Königreich untergehen.


Der abergläubische Charles erinnerte sich sofort an all die Katastrophen der jüngeren Vergangenheit, die Große Pest von 1665, die in der Stadt gewütet hatte, und natürlich daran, wie London nur ein Jahr später beim Großen Brand zu weiten Teilen zerstört worden war. Der als “Merry Monarch” bekannte Charles, ein fröhlicher Zeitgenosse und dem Leben überaus zugetan, besann sich. Und verfügte, dass fortan stets sechs Raben innerhalb der Gemäuer des Towers leben sollten. Zur Sicherheit.

Wenn Chris Skaife manchmal nachts von Albträumen geplagt aus dem Schlaf schreckt, liegt das an dieser Legende aus dem 17. Jahrhundert. Sobald er dann seine Gedanken ordnet, weiß er, dass er sich beruhigt wieder hinlegen kann. Alles ist gut, Raben eins bis sechs weilen in der Dunkelheit im Gehege. Die Verantwortung verfolgt Skaife bis in den Schlaf. Der 52-Jährige ist der Rabenmeister unter den Yeoman Warders im Tower. 37 “Beefeaters”, so ihr Spitzname, bewachen die fast tausend Jahre alte Festung und alles, was innerhalb ihrer dicken Mauern liegt. Die Rüstungs- und Waffenausstellung etwa, die unschätzbar wertvolle Münzsammlung und vorneweg die Kronjuwelen, die hinter Panzerglas Prunk, Pracht und Pomp der Royals symbolisieren. Selten nur trägt Elizabeth II die kostbaren Stücke, etwa ihre Alltagskrone, die Imperial State Crown. Besucher finden an diesen Tagen in der Vitrine ein Schild mit dem Hinweis “In Gebrauch”. Das britische Understatement dringt bis in die Schatzkammer des Landes vor.

Wenn morgens die ersten Sonnenstrahlen die alten Gemäuer hinaufkriechen und die Raben zu krächzen beginnen, legt Skaife seinen blauroten Uniformrock mit der Krone auf der Brust an und geht schnellen Schrittes zu seinen Vögeln. An manchen Tagen hüllt der Nebel von der nahen Themse die historische Festung derart ein, dass die Hochhäuser und Geschäftigkeit des modernen London auf der anderen Seite des Flusses verborgen bleiben. Und fast wähnt er sich wie zu Zeiten von Charles II, ohne dessen Aberglaube es seinen Job wahrscheinlich nicht gäbe.

Er begrüßt Erin, Rocky, Merlina, Jubilee, Gripp und Harris, plaudert ein wenig mit ihnen, “Hallo, wie geht’s? Habt ihr gut geschlafen?”, solche Dinge, und füttert sie mit 170 Gramm rohem Fleisch. Gelegentlich reicht er ihnen ein Kaninchen als Schmankerl, mit Fell. Damit die Kolkraben nicht übermütig in die Freiheit fliegen, wurden ihnen die Schwungfedern gestutzt. Was sie von gelegentlichen Fluchtversuchen aber keineswegs abhält. Vogel Grog etwa wurde letztmals 1981 vor einem Pub namens “Rose and Punchbowl” im East End gesichtet.


Dieser Artikel stammt aus MERIAN Heft Nr. 08/2018
© MERIAN

Dass sie in Käfigen nächtigen, liegt jedoch keineswegs am Unabhängigkeitsdrang einiger Raben, sondern an ihren natürlichen Feinden. Insbesondere die zahlreichen, durch London streifenden Füchse greifen immer wieder an. 2013 traf es gleich zwei Raben, der britische Boulevard weidete sich vermeintlich schockiert an diesem angeblichen Gemetzel, das monatelang vor der Öffentlichkeit geheim gehalten wurde. Flugs wurden also zwei neue Tiere beschafft, um die sagenumwobene Zahl sechs zu wahren. Der Raben­vater taufte sie auf die Namen der toten Artgenossen, Gripp und Jubilee. War was? Chris Skaife, seit 2011 im Dienst der Raben, sicherte, wenn man so will, die Existenz der Monarchie.

Der Rabenmord war das jüngste Kapitel in der reichlich blutigen Historie des Towers – und gemessen an der Grausamkeit früherer Jahrhunderte ein vergleichsweise harmloses. Die Burg, deren Bau von Wilhelm dem Eroberer in Auftrag gegeben worden war, ist eine der ältesten Europas. Die Geschichte Englands wurde lange zwischen diesen Gemäuern geschrieben. Das erste, um 1100 fertiggestellte Gebäude, der White Tower, erhebt sich noch immer in der Mitte der Anlage, thront mit ehrwürdiger Wuchtigkeit auf dem Gelände wie ein riesiger Pflasterstein. Damals sollte der White Tower, in dem heute die Sammlung von Waffen und Rüstungen ausgestellt ist, die Bevölkerung beeindrucken. Und er schafft das als Aushängeschild des Bilderbuch­-Britanniens bis heute. Skaife nennt ihn “das pochende Herz Englands”. Einerseits.

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