/Alpen-Initiative: “Geht es um die Berge, werden die Schweizer radikal”

Alpen-Initiative: “Geht es um die Berge, werden die Schweizer radikal”

DIE ZEIT:
Herr Aschwanden, vor 25 Jahren wurde die Alpen-Initiative überraschend angenommen. Heute
demonstrieren Zehntausende Menschen für eine strengere Klimapolitik und setzen die Parteien
unter Zugzwang: Erleben wir erneut, wie der ökologische Zeitgeist die politische Elite
überrollt?

Romed Aschwanden:
Das ist scharf formuliert, aber es scheint tatsächlich der Fall zu sein. Egal ob
Alpenschutz oder Klimakrise: In der Bevölkerung ist die Bereitschaft in der Regel größer als
in der Politik, eine Veränderung in der Umwelt als gesellschaftliches Problem anzuerkennen.
Aus historischer Sicht ist diese Bereitschaft grundlegend für ökologische Bewegungen und
umweltpolitisches Umdenken. Denn die Umwelt selber spricht nicht.

ZEIT:
Sie sind selber Urner. Wie erlebten Sie den Abstimmungssonntag im Februar 1994?

Aschwanden:
Ich war gerade mal sechs Jahre alt und erinnere mich nicht, wie das war. Aber meine Eltern
engagierten sich für die Initiative.

ZEIT:
Was löste bei Ihren Eltern den Widerstand gegen den Alpentransitverkehr aus?

Aschwanden:
Ende der 1970er-, Anfang der 1980er-Jahre wurden die Autobahnen durch die Alpen
fertiggestellt. Nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Österreich. 1975 wurde die
Brennerautobahn eröffnet, die Tiroler hatten das Projekt begeistert unterstützt – sobald der
Verkehr zunahm, merkten sie aber: Scheiße, das war nicht, was wir wollten!

ZEIT:
Was taten die Tiroler?

Aschwanden:
An der Brennerroute gab es ab 1986 massive Proteste. Zum Vergleich: In der Schweiz wurde
die Gotthardautobahn innert 30 Jahren zweimal blockiert, der Brenner gegen 50-mal. Die
Schweizer trugen den Protest von der Straße an die Urne und lancierten eine
Volksinitiative.

Alpen-Initiative: Romed Aschwanden forscht zur Alpenschutzbewegung.

Romed Aschwanden forscht zur Alpenschutzbewegung.
© privat

ZEIT:
Die Alpen-Initiative war also eine echte Initiative aus dem Volk?

Aschwanden:
Die Protagonisten der Alpen-Initiative sehen sich selber tatsächlich als Basis-Aktivisten.
Aber wichtige Köpfe wie der Walliser Peter Bodenmann oder der Bündner Andrea Hämmerle waren
bereits damals SP-Parteikader. Initianten brauchen Aussichten auf Erfolg, und den bieten
ihnen Parteien und Nichtregierungsorganisationen. Die können tatsächlich etwas bewegen.

ZEIT:
Wie reagierten die Umweltverbände auf die aktivistischen Bergler?

Aschwanden:
Die Umweltverbände waren anfangs eher zurückhaltend. Sie hatten einerseits schlechte
Erfahrungen mit Volksabstimmungen gemacht; 1977 scheiterte die Albatros-Initiative an der
Urne, die strenge Abgasvorschriften forderte. Andererseits wollten sie, allen voran der
linksgrüne Verkehrsclub der Schweiz, die eigene Kleeblatt-Initiative nicht konkurrieren,
über die 1990 abgestimmt wurde und die drei große Autobahnausbauprojekte verhindern
sollte.

ZEIT:
Die Kleeblatt-Initiative scheiterte, aber zwei Jahre später wurde die Alpen-Initiative
angenommen. Wie kam das?

Aschwanden:
Etwas zugespitzt gesagt: Geht es um die Berge, werden die Schweizer radikal. Das hängt mit
unseren nationalen Mythen zusammen, in denen die Alpen eine zentrale Rolle spielen. Deshalb
hat auch die Gletscher-Initiative, die nun lanciert wird und den Ausstieg aus fossilen Energien bis 2050 verlangt, wohl gute Chancen. Gletscher sind ein Symbol für die Schweizer
Alpen – und damit für die Schweiz schlechthin. Es ist politstrategisch geschickt, einen
solchen Titel zu setzen.

ZEIT:
Okay, aber am Alpenmythos hängen vor allem Bürgerliche, nicht die linksgrünen Freaks, die
damals die Alpenbewegung lostraten, oder die Schüler, die nun für einen besseren Klimaschutz
demonstrieren.

Aschwanden:
Es ist schwierig, in Umweltschutzfragen zwischen konservativ-bürgerlichem und
progressiv-linkem Denken zu unterscheiden. Das bewahrende Moment findet sich in der
Réduit-Strategie der Schweizer Armee im Zweiten Weltkrieg ebenso wie im Text der Alpen- oder
der Gletscher-Initiative. Die Alpen-Initianten mussten sich immer anhören: Ihr wollt ein
“Réduit in Grün” aufbauen. Die wirtschaftsfreundliche EU wurde damals zum linksgrünen
Feindbild. Sie wurde für die Lastwagen und den Transitverkehr verantwortlich gemacht.

ZEIT:
Das heißt: Der Alpenmythos ist in der Schweiz immer dann mehrheitsfähig, wenn er links wie
rechts verfängt …

Aschwanden:
… und wenn das Ziel dasselbe ist. Interessant am Abstimmungskampf über die
Alpen-Initiative ist: Er fand in der heißen Phase der europäischen Integration der Schweiz
statt. Es ging um die Frage: Wollen wir den europäischen Verkehr durch die Alpen lassen? In
den Vox-Analysen nach der Abstimmung zeigte sich: Es gibt eine Korrelation zwischen
EU-Ablehnung und Zustimmung zur Alpeninitiative. Umgekehrt galt: Wer pro EU war, der lehnte
die Alpen-Initiative eher ab. Die Initianten selber bezogen übrigens nie Position, weil sie
wussten, dass sie damit entweder die EU-skeptischen Konservativen oder die proeuropäischen
Linken verärgern würden. Ihre Idee war: Diese Volksinitiative aus der Schweiz ist ein Gewinn
für ganz Europa.

ZEIT:
Also war es gar nicht der viel zitierte Aussetzer von Bundesrat Adolf Ogi in der
Arena
des Schweizer Fernsehens, der die Abstimmung entschied? Ogi blaffte damals:
“Ihr Urner müsst gar nichts sagen, ihr, denen wir ja alles zahlen.”

Aschwanden:
Die
Arena-Sendung wird definitiv überschätzt. Die Meinungen waren bereits vorher
gemacht. Die Alpen und Berggebiete gewannen Ende der 1980er-Jahre global gesehen an
Bedeutung. Sie erhielten in der “Agenda 21” der UN-Umweltkonferenz in Rio 1992 ein eigenes
Kapitel und wurden erstmals als schützenswerte Naturgebiete anerkannt. 1991 wurde in
Salzburg die europäische Alpenkonvention unterzeichnet, ein völkerrechtlicher Vertrag aller
Länder mit Alpenanteil mit der Europäischen Gemeinschaft. Darin werden die Alpen als Raum
ausgewiesen, der gemeinsam geschützt werden muss. Was Wissenschaftler bereits in den
1970er-Jahren erkannten, war 1990 allen klar: Der Alpenraum war als Ganzes gefährdet. Und so
überrascht es eigentlich nicht, dass die Alpeninitiative angenommen wurde.

ZEIT:
Was bedeutet all das für die Klima-Aktivisten von heute und ihre Anliegen?

Aschwanden:
Es zeigt zum einen, wie wichtig internationale Abkommen sind. Sie haben politisch nur mäßig
viel Wirkung, aber umso mehr gesellschaftlichen Einfluss. Das gilt auch für den Pariser
Klimavertrag. Zum anderen lehrt die Alpen-Initiative: Wer sich mit einem ökologischen Thema
in der Schweiz durchsetzen will, muss die Zangentaktik anwenden.

ZEIT:
Das heißt?

Aschwanden:
In der institutionellen Politik sein Anliegen vorantreiben und gleichzeitig mit den
Protesten nicht aufhören. Also knallhart bleiben.

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