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Geschmack: Bitter ist das neue Süß

Die neue Sehnsucht treibt ihre Blüten überall. Bitterschokolade, sagen
Umfragen, ist auf Platz zwei in der Schoko-Beliebtheitskala geklettert und liegt jetzt gleich
hinter Nougat. Gute – also bittere – Olivenöle boomen (und konsequenterweise auch schlechte
bittere Öle). Der Umsatz von Magenbittern und Kräuterlikören steigt nach
Herstellerinformationen unaufhaltsam. Feinkostläden und Biomärkte halten bittere Gartenkräuter
wie Löwenzahn vorrätig, die man früher Unkraut nannte. Und wer mag, kann ein Kochbuch kaufen,
das
Bitter – der vergessene Geschmack
heißt.

Bitter boomt. Im Brauereigewerbe ist der Anteil der Bitterstoffe im Bier in den vergangenen sechs Jahren um 25 Prozent gestiegen. Selbst Großkonzerne, die für ihr Labberbier bekannt sind, brauen plötzlich geschmacklich Herausforderndes wie IPA- und Craft-Biere. Brotkäufer, die Geschmack demonstrieren wollen, greifen nur noch bei schwarz angekokelten Laiben zu. Früher hat man so was als verbrannt entsorgt. Als cool gelten schon seit einer Weile unter jungen Urbanen bittere Kräutersmoothies mit Grünkohl zum Mittagessen; zwischendurch Mategetränke, abends bevorzugt man Gin Tonic, zum Absacken einen Absinth. Spätestens wenn es wieder wärmer wird und alle Welt den Sonnenuntergang mit dem unvermeidlichen (bitteren) Aperol Spritz zelebriert, wird auch dem letzten Zweifler klar:
bitter is back.

Die Geschmacksforschung kennt beim Menschen ein Sensorium für fünf Geschmacksqualitäten: süß, sauer, salzig, bitter und die neu hinzugezählte fünfte, den Fleischgeschmack umami (manche Forscher postulieren als sechste Note: “fett”). Von allen Geschmäcken ist bitter unangefochten der unpopulärste. Doch gerade er scheint soeben eine Renaissance zu erleben. Es ist, als suchten die für bitter zuständigen Areale auf der Zunge dringend nach Beschäftigung, und das Gehirn interpretiert das Erleben dieses Geschmacksdefizits als Sehnsucht. Und zwar Sehnsucht nach: älter, natürlicher, ehrlicher, gesünder. Bitterer eben.

Wir erleben dabei ein physiologisches Paradoxon. Denn seit der Säbelzahntigerzeit ist “bitter” ein Alarmsignal, eine Warnung vor Gift und anderem Unzuträglichen. Pflanzen schützen sich gegen Fressfeinde mit Stacheln, harter Rinde – oder bitterem Gift. Unreifes, Vergorenes oder Fauliges schmeckt oft bitter. Das Zurückschrecken vor bitteren Speisen ist darum evolutionär vernünftig und in unseren Genen festgeschrieben. Forscher haben sogar überprüft, wie Ungeborene reagieren, wenn man sie Bitterem aussetzt: Sie verziehen ihr Gesicht. Bei Süßem lächeln sie. Versuche mit Babys zum Thema “gustofazialer Reflex” sind ausgesprochen lustig anzuschauen.

Leider kommt der Alarmgeschmack “bitter” in der Natur fast überall vor; also auch in unserer Nahrung. In einer gemeinsamen Anstrengung bemühen sich daher Landwirte und Nahrungsmittelindustrie um Entbitterung. Wildmöhren zum Beispiel sind ungenießbar bitter, noch vor 50 Jahren waren Möhren aus dem Supermarkt etwas herbe im Geschmack. Heute bekommt man dort durchweg süße Wurzeln. Ähnliche Zuchterfolge gelangen bei Mais, Spargel, Tomaten oder Brokkoli.

Erinnert sich noch jemand an bittere Grapefruits, die man nur mit massenhaft Zucker herunterbekam? Heute essen sich die Früchte wie Orangen. Wer kennt noch den sauren, leicht bitteren Geschmack alter Apfelsorten wie Heslacher Luiken, Ontario oder Pohorka? Der radikale Gegenentwurf, der Golden Delicious, wurde zum Inbegriff des belanglos schmeckenden Zuckerapfels. Und grüner Paprika ist, was seine Restbitterkeit angeht, nur noch ein Schatten des Paprikas der Sechzigerjahre. Endiviensalat musste man nach dem Krieg vor dem Essen wässern. Salatgurken hatten bittere Enden, die man abschneiden musste. Allesamt verschwunden. Weggezüchtet.

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