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Chancengleichheit: Die Bildung der Anderen

Gendersternchen, Fremdwörter – die akademische Elite ist abgehoben, findet unser Autor. Er kommt aus einer Arbeiterfamilie in der Provinz. Dort haben die Menschen ganz andere Probleme.

Politikseminar, zweites Uni-Semester, wir debattieren, ob es immer genauso
viele Frauen wie Männer in einem Firmenvorstand geben sollte. Einer meiner Mitstudenten hebt
die Hand: “Die Autorität über Relevanz und Richtigkeit einer weiblichen Subjektivität ist
niemals feministisch.” Rundherum Nicken. Einige klopfen mit den Knöcheln auf die Klapptische
vor sich, zeigen Anerkennung. Ich verstehe – nichts. Bis heute nicht. Das ist ein Problem.

Die Diskussionskultur an der Hochschule ist oft theoretisch und elitär, sie verfehlt die Lebensrealität vieler Menschen. Akademiker gelten als diejenigen, die in Zukunft die Geschicke unseres Landes lenken werden. Ausgerechnet sie schotten sich schon während ihrer Ausbildung von einem Großteil der Bevölkerung ab – durch Sprache und Themensetzung.

Meine Welt ist die eines Arbeiterkinds. Mein Vater kommt aus einer Dynastie von Eisenbahnern, lange schuftete er auch bei Regen und Schnee im Schichtdienst auf einem Rangierbahnhof; meine Mutter ist Kauffrau in einem Reisebüro. In meiner Familie bin ich seit drei Generationen der Erste mit Abitur. Wie lange ich zurückblicken müsste, um einen Akademiker zu finden, weiß ich nicht.

Seit der Szene an der Uni sind mehr als fünf Jahre vergangen – Studium, Journalistenschule, Veröffentlichungen in Medien wie der
ZEIT.
Heute bin ich 26. Trotzdem fühle ich mich noch immer wie ein Fremdkörper inmitten der Bildungselite.

Ich komme aus einem kleinen Dorf in Oberfranken. Über Politik und Gesellschaft wird hier am Stammtisch diskutiert, auf der Bierbank während eines Vereinsfests oder der Jahrfeier der Feuerwehr. Die steigenden Gas-, Benzin- und Lebensmittelpreise bestimmen das Gespräch. Die Verlegung von Glasfaserkabeln gilt als Großereignis; und scheinbar banale Entscheidungen wie die, die eigene Quelle aufzugeben und stattdessen auf Fernwasser zu setzen, füllen eine Turnhalle und spalten die Gemeinde. Die Menschen hier sprechen vielleicht in unverständlichem Dialekt, dafür klar in ihren Worten. Es koste “einen großen Batzen Geld”, der Bürgermeister sei “ein Rindvieh” und der Nachbar “ein feiner Kerl”. Hier hört man oft von “denen da oben”.

Viele Studierte grenzen sich durch ihre Sprache bewusst von “unten” ab und machen sich so zu Fremden. Der Mensch aber reagiert auf wenige Dinge so misstrauisch wie auf das Fremde. Mit wem man nicht reden kann, der bleibt für immer Teil einer anderen Welt.

Dieser Konflikt wirkt in beide Richtungen: Schon vor dem Abitur gierte ich nach der Universität. Ich wollte nicht erst nach Australien, Thailand oder in die USA, suchte die Freiheit nicht in der Ferne, sondern im Austausch der Gedanken. Diskussionskultur ohne Grenzen – so stellte ich mir das Studium vor. Stattdessen fühlte ich mich wie beschränkt.

Die Menschen im Dunstkreis der Universität nutzen Fremd- und Lehnwörter, um ihre Bildung zu betonen. Studienkameraden sind plötzlich “Kommilitonen”, die Anmeldung für ein Studium heißt “Immatrikulation”.

Nicht nur im Seminar, sogar während Diskussionen am Stammtisch gleicht der sprachliche Ausdruck einem Wettbewerb: Sätze imponieren mit exotischen Begriffen und dehnen sich zu immer längeren Ketten, auf die der Redner immer neue Worte fädelt. Einmal sprach ich eine Dozentin darauf an. Ihre Antwort: “Herr Stark, Sie sind jetzt an der Universität. Es ist an Ihnen, das Lesen und Sprechen diesem Niveau angemessen neu zu lernen.”

Damals wie heute denke ich: Das ist Unsinn. Sprache ist mächtig. Wenn Angehörige von Bildungseinrichtungen sie nutzen, um ihre Stellung hervorzuheben, ist das Missbrauch. Ziel eines jeden Horts der Bildung sollte es sein, nach einfachen Worten zu suchen, um Wissen zu teilen. Alles andere widerspricht dem Streben nach Chancen- und Bildungsgleichheit.

Wieso wussten scheinbar alle, was man gelesen, gehört, gesehen haben musste?

Anders als heute hatte ich damals Zweifel daran. Schließlich war ich ja der Außenseiter. Der Ahnungslose, der noch nie Thomas Mann, Hemingway oder Tolstoi gelesen hatte und der schon froh war, diese Namen überhaupt zu kennen. Viel häufiger kannte ich die Namen nicht. Ich wurde still, sobald sich ein Gespräch der Kultur zuwandte: Filmen, Musik, Büchern, Theater. Es war den anderen so selbstverständlich, die Klassiker zu kennen, dass ich mich schämte, weil ich sie nicht kannte. Wieso wussten scheinbar alle, was man gelesen, was man gehört, was man gesehen haben musste? Kam ich aus einer anderen, dümmeren Welt, in die diese Werke niemals hinabgesunken waren?

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