/Antisemitismus in Frankreich: “Wir beobachten eine Vermischung der antisemitischen Argumente”

Antisemitismus in Frankreich: “Wir beobachten eine Vermischung der antisemitischen Argumente”

Der Philosoph Alain
Finkielkraut kam gerade von einem Mittagessen, als er vergangenes
Wochenende in Paris am Rande einer Demonstration der Gelbwesten antisemitisch
beschimpft wurde. “Dreckiger Zionist” war ein Ausruf, der ihm
entgegenschlug
. Der Vorfall um Finkielkraut ist bei Weitem nicht der einzige, bei dem
Antisemitismus in Frankreich offen zutage tritt. Stefan Seidendorf
ist stellvertretender Direktor des Deutsch-Französischen Instituts in
Ludwigsburg. Der Sozialwissenschaftler lebt in
Frankreich und arbeitet in Deutschland.

ZEIT ONLINE: Herr
Seidendorf, eine Statistik besagt, dass die Zahl
antisemitischer Straftaten in Frankreich 2018 um 74 Prozent im Vergleich
zum Vorjahr
gestiegen ist. Hat Frankreich ein Problem mit Antisemitismus?

Stefan Seidendorf:
Kein
größeres als Deutschland. In
Deutschland verzeichnen wir in absoluten Zahlen eine ähnliche Zunahme
an antisemitischen Straftaten wie
in Frankreich. Antisemitische Straftaten umfassen alles von Beleidigung und Propaganda über das Beschmieren von
Gräbern mit einem Hakenkreuz bis hin zu einem gewalttätigen Übergriff. 2017
waren es in Frankreich 311
antisemitische
Straftaten,
im
vergangenen Jahr 541.
Zum
Vergleich: In
Deutschland
wurden
2018
1.646
gezählt, im Jahr davor 1.504. Hier leben aber auch mehr Menschen als in Frankreich.
Gleichzeitig ist die jüdische Community in
Frankreich
größer.
Dort
leben etwa 482.000 Jüdinnen und Juden, in Deutschland etwa 200.000.

ZEIT ONLINE: Für besondere Bestürzung haben in den vergangenen Jahren Morde an Juden in Frankreich gesorgt. 2018 töteten Männer die Holocaustüberlebende Mireille Knoll aufgrund ihrer Religion. 2017 ermordete ein Nachbar die Jüdin Sarah Halimi. Ein Gericht stufte den
Mord als antisemitisch motiviert ein
. Solche Morde sind aus Deutschland nicht überliefert, oder?

Seidendorf: Nein, zum Glück ist uns das in Deutschland bisher erspart geblieben.

Antisemitismus in Frankreich: Frankreich hat kein generell größeres Antisemitismus-Problem als Deutschland, sagt der Sozialwissenschaftler Stefan Seidendorf. Aber es gibt ein paar Besonderheiten.

Sozialwissenschaftler Stefan Seidendorf arbeitet in Ludwigsburg und lebt in Straßburg
© privat

ZEIT
ONLINE:
Was sind die Gründe für den
Antisemitismus
in Frankreich?

Seidendorf: Es gibt zum
einen den Antisemitismus der extremen Rechten, zum
anderen den linken
Antisemitismus,
der sich vor allem als Kritik
an Israel
und als
Antizionismus
darstellt. Und es gibt, drittens,
das relativ neue Phänomen,
dass islamistische Gruppen
sich antisemitisch positionieren.

ZEIT
ONLINE:
Alain Finkielkraut sagt,
am Rande einer
Demonstration der
Gelbwesten
habe ihn unter
anderem ein
Salafist beleidigt. Wie
wird in Frankreich über Antisemitismus durch
Islamisten gesprochen?

Seidendorf: In Frankreich gibt es schon länger eine kritische und zum Teil auch fremdenfeindliche Auseinandersetzung mit muslimischer Einwanderung. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass in Frankreich viele Muslime leben. Nach den Katholiken handelt es sich um die zweitgrößte Religionsgemeinschaft. Andererseits gibt es mit dem Front National schon lange eine rechtsextreme Partei, die fremdenfeindlich und bisweilen rassistisch oder antisemitisch argumentiert. Neu ist der Versuch des Front National, der jetzt Rassemblement National heißt, sich der republikanischen Legitimität zu bemächtigen, um selbst aus der rechtsextremen Ecke herauszukommen. Dazu gehört dann zum Beispiel das Argument: “Nicht wir sind die Antisemiten, sondern die muslimischen Vorstadtkinder.”

ZEIT ONLINE: Stimmt das denn, wenn man sich die Statistik der Urheber antisemitischer Straftaten anguckt?

Seidendorf: Darüber gibt die französische Statistik keine Auskunft. Es ist aber so, dass das eine das andere nicht ausschließt: Sowohl Rechtsextreme als auch Islamisten bedienen sich antisemitischer Topoi und Argumente und beide Gruppen lassen sich auch als Urheber antisemitischer Straf- und Gewalttaten ausmachen.

ZEIT ONLINE: Sind die Argumente immer die gleichen?

Seidendorf:
Wir
beobachten
eine
Vermischung
der
Argumente
von extrem
Linken,
extrem Rechten
und Islamisten.
Man kann ihre
Argumente
nicht mehr richtig trennen. Sie
bedienen
sich bei
den
jeweils
anderen. Bei
allen
findet sich Kritik
an der israelischen Politik
und der
Regierung
im Hinblick
auf Palästina.
Das wird dann
oft
verallgemeinert
und für antizionistische Standpunkte
genutzt, als “Kritik an Israel”.
Daneben
gibt es die
sehr alten
Stereotype
von
der
angeblichen
Weltverschwörung
der jüdischen Großfinanciers und vom Reichtum aller Juden,

ZEIT
ONLINE:
Der
Übergriff auf Finkielkraut geschah am Rande einer Demonstration der
Gelbwesten. Sind
die
Gelbwesten
antisemitisch?

Seidendorf:
Ihre
Kritik
an dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron
ist zum Teil
antisemitisch aufgeladen, er
wird als
vermeintlicher Rothschild-Bänker
dargestellt oder
als “jüdische Hure” verunglimpft.
Ich
tue mich aber
schwer
damit, zu sagen, die
Gelbwesten
seien alle
antisemitisch.
Sie
sind ein
Durchschnitt
der
französischen
Vorort-
oder Provinzbevölkerung.
Sie
glauben zwar mehr an Verschwörungstheorien als der Durchschnitt der
Franzosen. Das liegt aber eher an ihrem Bildungsstand und ihrem beschränkten
Zugang
zu intellektuellen Debatten.
Bei
den Diskussionen mit Gelbwesten hört man oft sehr ungefiltert das, was früher eher
abseits
der breiten Öffentlichkeit, etwa abends in
einer
Bar, gesagt
wurde.

ZEIT
ONLINE:
Auch
in Deutschland haben die antisemitischen Straftaten zugenommen. 2017
waren es noch 1.504, im vergangenen Jahr
1.646
. Das
sind knapp zehn Prozent mehr. Es
ist also bei Weitem kein
rein französisches
Problem.

Seidendorf:
Nein,
wobei
es Unterschiede gibt. Franzosen
sind für Antisemitismus aus der rechten Ecke vielleicht etwas weniger sensibel als etwa
die Deutschen
– was historische Gründe haben dürfte.
Dafür
ist das Phänomen
des islamistischen Antisemitismus
in Frankreich
schon länger präsent, die
Politik
und die Öffentlichkeit sind
auch
sensibler dafür. Linke
antizionistische Schmähungen
gibt es in
beiden Ländern. In
Frankreich kommt noch hinzu, dass Juden
häufig viel sichtbarer sind

sowohl
im
Straßenbild als
auch politisch. In Frankreich tragen die verschiedenen jüdischen Communitys ihre traditionelle Kleidung auf der Straße. Handelt es sich um Orthodoxe, kann das durchaus der Schtreimel (Pelzhut) oder der Kaftan sein. In Deutschland erkennt man jüdische Menschen meist nur an ihrer Kippa, wenn überhaupt. In
Frankreich beziehen jüdische Verbände öffentlich
auch häufiger dezidierte politische Positionen als der Zentralrat der Juden in Deutschland.

ZEIT
ONLINE:
Bekommen Sie Antisemitismus in Frankreich in Ihrem Alltag
mit?

Seidendorf: Die Veränderungen sind eher subtil. Wenn Sie in Frankreich zu einem türkischen Metzger oder zu einem
arabischen Gemüsehändler gehen, finden Sie oft Spendenboxen für
Kinder in Palästina. Das heißt noch nicht, dass es sich um Antisemiten handelt. Kritik an der israelischen Palästina-Politik ist weitverbreitet und politisch auch akzeptiert. Sie dient aber auch als Einfallstor für den virulenten Antisemitismus der Islamisten, der sich damit dann auf einmal im Zentrum der politischen Debatte befindet.

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