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Modeselektor und Diplo: E-U. E-e-e-e-U!

Modeselektor und Diplo: Die EU-Flagge auf schwarzem Trauerflor: Gernot Bronsert (links) und Sebastian Szary von Modeselektor

Die EU-Flagge auf schwarzem Trauerflor: Gernot Bronsert (links) und Sebastian Szary von Modeselektor
© Birgit Kaulfuss

Modeselektor sind
Experten für Abrisspartys. Gernot Bronsert und Sebastian Szary waren schon zu
Mauerfallzeiten vor Ort, als Chaos und Anarchie nicht nur die Berliner
Technoszene bestimmten. Sie haben Plattenfirmen gegründet, beerdigt und
wiederbelebt, unzählige Clubs kommen und gehen sehen, waren angesagt,
abgemeldet und haben so lange weitergemacht, bis es irgendwann auch egal wurde.
Nun, da uns Europa und vielleicht bald noch mehr um die Ohren fliegt, kommt ein
neues Album von Modeselektor gerade recht. Es heißt Who Else, ohne Fragezeichen.
Wer sonst soll schließlich das musiktherapeutische Rahmenprogramm zur
Abwickelung des Kontinents stemmen.

Ende März ist
Brexit, zumindest wahrscheinlich, und ganz bestimmt wird im Mai über das nächste
Europaparlament abgestimmt. Die Zeiten, in denen so eine Wahl als unbedeutend
galt, sind lange vorbei. Sogar der Pop interessiert sich inzwischen für den
potenziellen Glamourstützpunkt Europa. Gleich drei Alben zum Thema erscheinen am 22. Februar. Die Wiener Band Bilderbuch etwa bietet
auf ihrer Website einen Europapass zur Selbstausstellung (und -darstellung)
an: Sie wirbt damit für mehr Miteinander unter den Staaten – sowie ihr neues
Album Vernissage My Heart, das den Offene-Grenzen-Song Europa 22
enthält. So direkt würden Modeselektor niemals vorgehen. Auch sie werfen sich
mit Who Else jedoch in auffallend staatstragende Posen.

Aktuelle Fotos
zeigen Modeselektor Hand in Hand, Szary trägt Overall und Arbeitsstiefel,
Bronsert einen dieser EU-Flagge-Pullis, bei deren Anblick man immer gleich die
Eurovisionshymne pfeifen will. Machen Modeselektor jetzt also die Drecksarbeit
für Europa? Sie erinnern mit ihrer neuen Platte zumindest an die verbindende
Kraft der Tanzmusik, knüpfen symbolträchtige London-Berlin-Connections mit der
Rapperin Flohio und ermutigen deren estnischen Gegenpart Tommy Cash zu einer
Art Bildungssystemblues: “Who says study will get you work?/Who says school
will get you class?”,
säuselt der Mann aus dem beliebten
Osterweiterungsreiseland.

Als Repräsentanten
der Berliner Clubkultur sind Bronsert und Szary in den vergangenen 20 Jahren
herumgekommen wie kaum ein anderer Hauptstadtact. Auch ihnen ist es jedoch nur
selten gelungen, das Besondere dieser Clubkultur in die Wohnzimmer ihres
Publikums zu tragen. Drei eigene Alben haben Modeselektor bisher veröffentlicht,
drei weitere unter dem Projektnamen Moderat im Schulterschluss mit dem DJ und
Produzenten Apparat, außerdem zahlreiche Compilations, Singles, Re- und
DJ-Mixes. Den meisten dieser Platten haftet dasselbe Problem an: Sie enthalten
tüchtigen Könner-Techno und andere Bass-Anwandlungen, sind aber nicht zu
vergleichen mit der ekstatischen Erfahrung eines DJ-Gigs von Modeselektor.

Who Else ist das womöglich
letzte Aufbäumen gegen diesen Zustand. Das erste Modeselektor-Album seit acht
Jahren ist deutlich kürzer und geradliniger als seine Vorgänger. Es verzichtet
auf Experimente mit Kunststudentenrap, sogenannter intelligenter Tanzmusik
oder Gastgesang von Radioheads Thom
Yorke
und konzentriert sich stattdessen auf Bass und Beat. Bronsert und Szary
haben eine Clubplatte gemacht, die ihre Daseinsberechtigung während der
Berghain-Schließzeiten aus einem besonders sorgfältigen Umgang mit ihren
wenigen Bausteinen schöpfen soll. Keine Kickdrum kommt hier zweimal vor, keine
Snare wiederholt sich. Strebertechno wäre ein hartes Label für Who Else,
aber kein ganz abwegiges.

Tatsächlich sitzen
die Clubmusik-Tutorials auf Who Else so passgenau, dass sich nicht immer
mit letzter Sicherheit sagen lässt, ob Modeselektor nun gerade ihre Macht in
Sachen Jungle, Trance oder Acid-House demonstrieren – oder ob sie sich über das
jeweilige Genre lustig machen. Was das Album zusammenhält, ist kein
musikalischer Überbau, sondern ein gedanklicher: Es scheint angelegt als
letztes Hallo vor dem nächsten großen Abriss. Am Anfang steht der standesgemäße
Banger One United Power, am Ende Wake Me Up When It’s Over, ein
vorab verkaterter Autotune-Abgesang.

Kurioserweise rückt
Who Else durch diese Stilübung auch ein Stück weit an die dauerbenebelte
Popmusik von Bilderbuch heran. Die ehemals gedankenlastige Schrammelgitarrenband um
den Sänger und Sprachpanscher Maurice Ernst erfand sich vor fünf Jahren als
selbstironische Hipster-Boygroup neu und fährt seitdem ziemlich gut damit, dümmer
zu tun, als sie ist. Vernissage My Heart ist das zweite Album von
Bilderbuch binnen weniger Monate, das vierte seit ihrem Kurswechsel und das
sechste insgesamt. Mit Zitterfalsett, Stimmverfremdung und kompetent
nachempfundenem Bubblegum-Pop spult die Band darauf ihre bekannten Themen ab: love für
Mutti, power fürs Handy, freedom für alle und Rettung für Europa.

Modeselektor
verfolgen ähnliche Absichten, sparen sich aber das Hippie-Gedöns. Gedanken zu
Europa und der Zukunft ihrer Reisepässe klingen bei Bronsert und Szary deutlich
düsterer: Sie schweben über Who Else wie die Leichen über den Tanzenden
in der Berliner Clubmusikfernsehserie Beat. Man kann sich die Party
davon versauen lassen, aber man muss natürlich nicht. Der Morgen wird uns
ohnehin früh genug einholen, das ist eine Schlüsselbotschaft des Albums. Oder
der nächste. Oder der übernächste. 

Hits: 16